Testi Definizione Esercizi


Christoph Martin Wieland

Geschichte des Agathon


  • Erster Teil
  • Zweites Buch
  • Fünftes Buch
  • Zweiter Teil


  • - quid Virtus, et quid Sapientia possit
    Utile proposuit nobis exemplar. -

    Erster Teil


    Vorbericht

    Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in der Tat aus einem alten Griechischen Manuscript gezogen sei; daß er am besten zu tun glaubt, über diesen Punct gar nichts zu sagen, und dem Leser zu überlassen, davon zu denken, was er will. Gesetzt, daß wirklich einmal ein Agathon gewesen, (wie dann in der Tat, um die Zeit, in welche die gegenwärtige Geschichte gesetzt worden ist, ein comischer Dichter dieses Namens den Freunden der Schriften Platons bekannt sein muß:) gesetzt aber auch, daß sich von diesem Agathon nichts wichtigers sagen ließe, als wenn er geboren worden, wenn er sich verheiratet, wie viel Kinder er gezeugt, und wenn, und an was für einer Krankheit er gestorben sei: was würde uns bewegen können, seine Geschichte zu lesen, und wenn es gleich gerichtlich erwiesen wäre, daß sie in den Archiven des alten Athens gefunden worden sei?
         Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern hiemit vorlegen, gefodert werden kann und soll, bestehet darin, daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Character nicht willkürlich, und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit, die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft, mit allen den besondern Farben und Schattierungen, welche sie durch den Individual-Character und die Umstände einer jeden Person bekommen, aufs genaueste beibehalten; daneben auch der eigene Character des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesetzt wird, niemal aus den Augen gesetzt; und also alles so gedichtet sei, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen werde. Diese Wahrheit allein kann Werke von dieser Art nützlich machen, und diese Wahrheit getrauet sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte des Agathons zu versprechen.
         Seine Hauptabsicht war, sie mit einem Character, welcher gekannt zu werden würdig wäre, in einem manchfaltigen Licht, und von allen seinen Seiten bekannt zu machen. Ohne Zweifel gibt es wichtigere als derjenige, auf den seine Wahl gefallen ist. Allein, da er selbst gewiß zu sein wünschte, daß er der Welt keine Hirngespenster für Wahrheit verkaufe; so wählte er denjenigen, den er am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat. Aus diesem Grunde kann er ganz zuverlässig versichern, daß Agathon und die meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind, wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und in dieser Stunde noch gibt, und daß (die Neben-Umstände, die Folge und besondere Bestimmung der zufälligen Begebenheiten, und was sonsten nur zur Auszierung, welche willkürlich ist, gehört, ausgenommen) alles, was das Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht noch um manchen Grad gewisser sei, als irgend ein Stück der glaubwürdigsten politischen Geschichtschreiber, welche wir aufzuweisen haben.
         Es ist etwas bekanntes, daß öfters im menschlichen Leben weit unwahrscheinlichere Dinge begegnen, als der Chevalier de Mouhy selbst zu erdichten sich getrauen würde. Es würde also sehr übereilt sein, die Wahrheit des Characters unsers Helden deswegen in Verdacht zu ziehen, weil es öfters unwahrscheinlich ist, daß jemand so gedacht oder gehandelt habe, wie er. Wenn es unmöglich sein wird, zu beweisen, daß ein Mensch, und ein Mensch unter den besondern Bestimmungen, unter welchen sich Agathon von seiner Kindheit an befunden, nicht so denken oder handeln könne, oder wenigstens es nicht ohne Wunderwerke, Einflüsse unsichtbarer Geister, oder übernatürliche Bezauberung hätte tun können: So glaubt der Verfasser mit Recht erwarten zu können, daß man ihm auf sein Wort glaube, wenn er positiv versichert, daß Agathon wirklich so gedacht oder gehandelt habe. Zu gutem Glücke finden sich in den beglaubtesten Geschichtschreibern, und schon allein in den Lebensbeschreibungen des Plutarch Beispiele genug, daß es möglich sei, so edel, so tugendhaft, so enthaltsam, oder, nach der Sprache des Hippias, und einer ansehnlichen Classe von Menschen zu reden, so seltsam, so eigensinnig und albern zu sein als es unser Held in einigen Gelegenheiten seines Lebens ist.
         Man hat an verschiedenen Stellen des gegenwärtigen Werks die Ursachen angegeben, warum man aus dem Agathon kein Modell eines vollkommen tugendhaften Mannes gemacht hat. Da die Welt mit ausführlichen Lehrbüchern der Sittenlehre angefüllt ist, so steht einem jeden frei, (und es ist nichts leichtere) sich einen Menschen einzubilden, der von der Wiege an bis ins Grab, in allen Umständen und Verhältnissen des Lebens, allezeit und vollkommen so empfinde, denkt und handelt, wie eine Moral. Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele ihr eigenes erkennen sollten, konnte er, wir behaupten es zuversichtlich, nicht tugendhafter vorgestellt werden, als er ist; und wenn jemand hierin andrer Meinung sein sollte, so wünschten wir, daß er uns (wenn es wahr ist, daß derjenige der Beste ist, der die besten Eigenschaften mit den wenigsten Fehlern hat,) denjenigen nenne, der unter allen nach dem natürlichen Lauf Gebornen, in ähnlichen Umständen, und alles zusammen genommen, tugendhafter gewesen wäre, als Agathon.
         Es ist möglich, daß irgend ein junger Taugenichts, wenn er siehet, daß ein Agathon den reizenden Verführungen der Liebe und einer Danae endlich unterliegt, eben den Gebrauch davon machen kann, welchen der junge Chärea beim Terenz von einem Gemälde machte, welches eine von den Schelmereien des Vater Jupiters vorstellte, – und daß er, wenn er mit herzlicher Freude gelesen haben wird, daß ein so vortrefflicher Mann habe fallen können, zu sich selbst sagen mag: Ego homuncio hoc non facerem? ego vero illud faciam ac lubens.
         Es ist eben so möglich, daß ein übelgesinnter oder ruchloser Mensch, den Discurs des Sophisten Hippias lesen, und sich einbilden kann, die Rechtfertigung seines Unglaubens und seines lasterhaften Lebens darin zu finden: Aber alle rechtschaffnen Leute werden mit uns überzeugt sein, daß dieser junge Bube, und dieser ruchlose Freigeist beides gewesen und geblieben wären, wenn gleich keine Geschichte des Agathon in der Welt wäre.
         Dieses letztere Beispiel führt uns auf eine Erläuterung, wodurch wir der Schwachheit gewisser gutgesinnter Leute, deren Wille besser ist, als ihre Einsichten, zu Hülfe zu kommen, und sie vor unzeitig genommenem Ärgernis oder ungerechten Urteilen zu verwahren, uns verbunden glauben. Wir gestehen gerne, daß in das Bewußtsein der Redlichkeit unsrer Absichten eingehüllt, nicht daran gedacht hätten, daß diese Sorgfalt nötig wäre, wenn uns nicht die Anmerkung stutzen gemacht hätte, welche einer unsrer Freunde, ohne unser Vorwissen, auf der Seite pag. * unter den Text zu setzen, gut befunden.
         Diese Erläuterung betrifft die Einführung des Sophisten Hippias in unsere Geschichte, und den Discurs, wodurch er den Agathon von seinem liebenswürdigen und tugendhaften Enthusiasmus zu heilen, und zu einer Denkungsart zu bringen hofft, welche er nicht ohne guten Grund für geschickter hält, sein Glück in der Welt zu machen. Leute, die aus gesunden Augen gerade vor sich hin sehen, würden ohne unser Erinnern aus dem ganzen Zusammenhang unsers Werkes, und aus der Art, wie wir bei aller Gelegenheit von diesem Sophisten und seinen Grundsätzen reden, ganz deutlich eingesehen haben, wie wenig wir dem Mann und dem System günstig sind; und ob es sich gleich weder für unsere eigene Art zu denken, noch für den Ton und die Absicht unsers Buches geschickt hätte, mit dem heftigen Eifer gegen ihn auszubrechen, welcher einen jungen Magister treibt, wenn er, um sich seinem Consistorio zu einer guten Pfründe zu empfehlen, gegen einen Tindal oder Bolingbroke zu Felde zieht: So hoffen wir doch bei vernünftigen und ehrlichen Lesern keinen Zweifel übrig gelassen zu haben, daß wir den Hippias für einen schlimmen und gefährlichen Mann, und sein System, (in so fern es den echten Grundsätzen der Religion und der Rechtschaffenheit widerspricht) für ein Gewebe von Trugschlüssen ansehen, welche die menschliche Gesellschaft zu grunde richten würden, wenn es moralisch möglich wäre, daß der größere Teil der Menschen damit angesteckt werden könnte. Wir glauben also vor allem Verdacht über diesen Artikel sicher zu sein. Aber da unter unsern Lesern ehrliche Leute sein können, welche uns wenigstens eine Unvorsichtigkeit Schuld geben, und davor halten möchten, daß wir diesen Hippias entweder gar nicht einführen, oder wenn dieses der Plan unsers Werkes ja erfodert hätte, seine Lehrsätze ausführlich hätten widerlegen sollen: So sehen wir für billig an, ihnen die Ursachen zu sagen, warum wir das erste getan, und das andere unterlassen haben.
         Weil nach unserm Plan der Character unsers Helden auf verschiedene Proben gestellt werden sollte, durch welche seine Denkensart und seine Tugend erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und nach abgesondert würde; so war es um so viel nötiger ihn auch dieser Probe zu unterwerfen, da Hippias, bekannter maßen, eine historische Person ist, und mit den übrigen Sophisten derselben Zeit sehr vieles zur Verderbnis der Sitten unter den Griechen beigetragen hat. Überdem diente er den Charakter und die Grundsätze unsers Helden durch den Contrast, den er mit selbigen macht, in ein desto höheres Licht zu setzen. Und da es mehr als zu gewiß ist, daß der größeste Teil derjenigen, welche die große Welt ausmachen, wie Hippias denkt, oder doch nach seinen Grundsätzen handelt; so war es auch in dem Plan der moralischen Absichten, welche wir uns bei diesem Werke vorgesetzt haben, zu zeigen, was für einen Effect diese Grundsätze machen, wenn sie in den gehörigen Zusammenhang gebracht werden. Und dieses sind die hauptsächlichsten Ursachen, warum wir diesen Sophisten (welchen wir nicht schlimmer vorgestellt haben, als er wirklich war, und seine Brüder noch heutiges Tages sind) in die Geschichte des Agathon eingeflochten haben.
         Eine ausführliche Widerlegung dessen, was in seinen Grundsätzen irrig und gefährlich ist: (Denn in der Tat hat er nicht allemal unrecht,) wäre in Absicht unsers Plans ein wahres hors d’oeuvre gewesen, und schien uns auch in Absicht der Leser überflüssig; indem nicht nur die Antwort, welche ihm Agathon gibt, das beste enthält, was man dagegen sagen kann; sondern auch das ganze Werk (wie einem jeden in die Augen fallen wird, sobald man das Ganze wird übersehen können) als eine Widerlegung desselben anzusehen ist. Agathon widerlegt den Hippias beinahe auf die nämliche Art wie Diogenes den Sophisten, welcher leugnete, daß eine Bewegung sei: Diogenes ließ den Sophisten schwatzen, so lang er wollte; und da er fertig war, begnügte er sich vor seinen Augen ganz gelassen auf und ab zu gehen. Dieses war unstreitig die einzige Widerlegung, die er verdiente.
         Wir würden dem zweiten Teile, dessen Ausgabe von der Aufnahme des ersten abhangen wird, den Vorteil der Neuheit und den Lesern zu gleicher Zeit ein künftiges Vergnügen rauben, wenn wir den Inhalt desselben vor der Zeit bekannt machten. Genug, daß man unsern Helden in der Folge in eben so sonderbaren und interessanten Umständen und Verwicklungen sehen wird, als in dem ersten Teil. Alles, was wir vorläufig von der Entwicklung sagen können, ist dieses: daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens, welche den Beschluß unsers Werkes macht, ein eben so weiser als tugendhafter Mann sein wird, und (was uns hiebei das beste zu sein deucht,) daß unsre Leser begreifen werden, wie und warum er es ist; warum vielleicht viele unter ihnen, weder dieses noch jenes sind; und wie es zugehen müßte, wenn sie es werden sollten.

    Zehntes Kapitel

    Ein Selbstgespräch

    Da wir uns zum unverbrüchlichen Gesetze gemacht haben, in dieser Geschichte alles sorgfältig zu vermeiden, was gegen die historische Wahrheit derselben einigen gerechten Verdacht erwecken könnte; so würden wir uns ein Bedenken gemacht haben, das Selbstgespräch, welches wir hier in unserm Manuscript vor uns finden, mitzuteilen, wenn nicht der ungenannte Verfasser die Vorsicht gebraucht hätte uns zu melden, daß seine Erzählung sich in den meisten Umständen auf eine Art von Tagebuch gründe, welches (sichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon sei, und wovon er durch einen Freund zu Crotona eine Abschrift erhalten. Dieser Umstand macht begreiflich, wie der Geschichtschreiber habe wissen können, was Agathon bei dieser und andern Gelegenheiten mit sich selbst gesprochen; und schützet uns gegen die Einwürfe, die man gegen die Selbstgespräche machen kann, worin die Geschichtschreiber den Poeten so gerne nachzuahmen pflegen, ohne sich, wie sie, auf die Eingebung der Musen berufen zu können.
         Unsre Urkunde meldet also, nachdem die erste Wut des Schmerzens, welche allezeit stumm und Gedankenlos zu sein pflegt, sich geleget, habe Agathon sich umgesehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und Wasser um sich her erblickt, habe er, seiner Gewohnheit nach, also mit sich selbst zu philosophieren angefangen:
         War es ein Traum, was mir begegnet ist, oder sah ich sie würklich, hört’ ich würklich den rührenden Accent ihrer süßen Stimme, und umfingen meine Arme keinen Schatten? Wenn es mehr als ein Traum war, warum ist mir von einem Gegenstand, der alle andern aus meiner Seele auslöschte nichts als die Erinnerung übrig? – Wenn Ordnung und Zusammenhang die Kennzeichen der Wahrheit sind, o! wie ähnlich dem ungefähren Spiel der träumenden Phantasie sind die Zufälle meines ganzen Lebens! – Von Kindheit an unter den heiligen Lorbeern des Delphischen Gottes erzogen, schmeichle ich mir unter seinem Schutz, in Beschauung der Wahrheit und im geheimen Umgang mit den Unsterblichen, ein stilles und sorgenfreies Leben zuzubringen. Tage voll Unschuld, einer dem andern gleich, fließen in ruhiger Stille, wie Augenblicke vorbei, und ich werde unvermerkt ein Jüngling. Eine Priesterin, deren Seele eine Wohnung der Götter sein soll, wie ihre Zunge das Werkzeug ihrer Aussprüche, vergißt ihre Gelübde, und bemüht sich meine unerfahrne Jugend zu Befriedigung ihrer Begierde zu mißbrauchen. Ihre Leidenschaft beraubt mich derjenigen, die ich liebe; ihre Nachstellungen treiben mich endlich aus dem geheiligten Schutzort, wo ich, seit dem ich mich selbst empfand, von Bildern der Götter und Helden umgeben, mich einzig beschäftigt hatte, ihnen ähnlich zu werden. In eine unbekannte Welt ausgestoßen, finde ich unvermutet einen Vater und ein Vaterland, die ich nicht kannte. Ein schneller Wechsel von Umständen setzt mich ebenso unvermutet in den Besitz des größten Ansehens in Athen. Das blinde Zutrauen eines Volkes, das in seiner Gunst so wenig Maß hält als in seinem Unwillen, nötigt mir die Anführung seines Kriegsheers auf; ein wunderbares Glück kommt allen meinen Unternehmungen entgegen, und führt meine Anschläge aus; ich kehre siegreich zurück. Welch ein Triumph! Welch ein Zujauchzen! Welche Vergötterung! Und wofür? Für Taten, an denen ich den wenigsten Anteil hatte. Aber kaum schimmert meine Bildsäule zwischen den Bildern des Cecrops und Theseus, so reißt mich eben dieser Pöbel, der vor wenigen Tagen bereit war, mir Altäre aufzurichten, mit ungestümer Wut zum Gerichtsplatz hin. Die Mißgunst derer, die das Übermaß meines Glücks beleidigte, hat schon alle Gemüter wider mich eingenommen, und alle Ohren gegen meine Verteidigung verstopft; Handlungen, worüber mein Herz mir Beifall gibt, werden auf den Lippen meiner Ankläger zu Verbrechen, mein Verdammungs- Urteil wird ausgesprochen. Von allen verlassen, die sich meine Freunde genannt hatten, und kurz zuvor die eifrigsten gewesen waren, neue Ehrenbezeugungen für mich zu erfinden, fliehe ich aus Athen, mit leichtem Herzen, als womit ich vor wenigen Wochen, unter dem Zujauchzen einer unzählbaren Menge, durch ihre Tore eingeführt wurde; und entschließe mich den Erdboden zu durchwandern, ob ich einen Ort finden möchte, wo die Tugend, von auswärtigen Beleidigungen sicher, ihrer eigentümlichen Glückseligkeit genießen könnte, ohne sich aus der Gesellschaft der Menschen zu verbannen. Ich nahm den Weg nach Asien, um an den Ufern des Oxus die Quellen zu besuchen, aus denen die Geheimnisse des Orphischen Gottesdiensts zu uns geflossen sind. Ein Zufall führt mich unter einen Schwarm rasender Bacchantinnen, und ich entrinne ihrer verliebten Wut bloß dadurch, daß ich in die Hände seeräuberischer Barbaren falle. In diesem Augenblicke, da mir von allem was man verlieren kann nur noch das Leben übrig ist, finde ich meine Psyche wieder; aber kaum fange ich an meinen Sinnen zu glauben, daß sie es sei, die ich in meinen Armen umschlossen halte, so verschwindet sie wieder, und ich finde mich auf diesem Schiffe, um zu Smyrna als ein Sclave verkauft zu werden – Wie ähnlich ist alles dieses einem Traum, wo die schwärmende Phantasie, ohne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ortin Betracht zu ziehen, die betäubte Seele von einem Abenteur zu dem andern, von der Crone zum Bettlers-Mantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartarus ins Elysium fortreißt? Und ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum, so eitel, so unwesentlich, so unbedeutend als ein Traum? Ein unbeständiges Spiel des blinden Zufalls, oder unsichtbarer Geister, die eine grausame Belustigung darin finden, uns zum Scherz bald glücklich bald unglücklich zu machen? Oder, ist es eben diese allgemeine Seele der Welt, deren Dasein die geheimnisvolle Majestät der Natur ankündiget; ist es dieser allesbelebende Geist, der die menschlichen Sachen anordnet; warum herrschet in der moralischen Welt nicht eben diese unveränderliche Ordnung und Zusammenstimmung, wodurch die Elemente die Jahres- und Tages-Zeiten, die Gestirne und die Kreise des Himmels in ihrem gleichförmigen Lauf erhalten werden? Warum leidet der Unschuldige? Warum sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches Schicksal die Tugendhaften? Sind unsre Seelen den Unsterblichen verwandt, sind sie Kinder des Himmels; warum verkennt der Himmel sein Geschlecht und tritt auf die Seite seiner Feinde? Oder hat er uns die Sorge für uns selbst gänzlich überlassen, warum sind wir keinen Augenblick unsers Zustandes Meister? Warum vernichtet bald Notwendigkeit, bald Zufall, die weisesten Entwürfe?
         Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; sein in Zweifeln verwickelter Geist arbeitete sich loszuwinden, bis ein neuer Blick auf die majestätische Natur die ihn umgab, eine andre Reihe von Vorstellungen in ihm entwickelte. – Was sind, fuhr er mit sich selbst fort, meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennützigen Leidenschaft? Wer war diesen Morgen glücklicher als ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her. Hat sich die Natur binnen dieser Zeit verändert, oder ist sie minder der Schauplatz einer grenzenlosen Vollkommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von Psyche getrennet ist? Schäme dich, Kleinmütiger, deiner trübsinnigen Zweifel, und deiner unmännlichen Klagen! Wie kannst du Verlust nennen, dessen Besitz kein Gut war? Ist es ein Übel, deines Ansehens, deines Vermögens, deines Vaterlandes beraubt zu sein? Alles dessen beraubt warst du in Delphi glücklich, und vermißtest es nicht. Und warum nennest du Dinge dein, die nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall gibt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkür steht sie zu erlangen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und glücklich floß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechselungen kannte; eh ich genötiget war, mit den Leidenschaften andrer Menschen, oder mit meinen eigenen zu kämpfen, mich selbst und den Genuß meines Daseins einem undankbaren Volke aufzuopfern, und unter der vergeblichen Bemühung, Toren oder Lasterhafte glücklich zu machen, selbst unglücklich zu sein! – Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des Mißvergnügens am besten. Es waren Augenblicke, Tage, lange Reihen von Tagen, da ich glücklich war, glücklich in den frohen Stunden, da meine Seele, vom Anblick der Natur begeistert, in tiefsinnigen Betrachtungen und süßen Ahnungen, wie in den bezauberten Gärten der Hesperiden irrte; glücklich, wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe, aller Bedürfnisse, aller Wünsche vergaß, und nun zu verstehen glaubte, was die Wonne der Götter sei; glücklicher, wenn in Augenblicken, deren Erinnerung den bittersten Schmerz zu versüßen genug ist, mein Geist in der großen Betrachtung des Ewigen und Unbegrenzten sich verlor – Ja du bist, alles beseelende, alles regierende Güte – ich sah, ich fühlte dich! Ich empfand die Schönheit der Tugend, die dir ähnlich macht; ich genoß die Glückseligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit der Augenblicke, und Augenblicken den Wert von Jahrhunderten gibt. Die Macht der Empfindung zerstreut meine Zweifel; die Erinnerung der genossenen Glückseligkeit heilet den gegenwärtigen Schmerz, und verspricht eine bessere Zukunft. Alle diese allgemeine Quellen der Freude, woraus alle Wesen schöpfen, fließen, wie ehmals, um mich her; meine Seele ist noch eben dieselbige, wie die Natur, die mich umgibt – O Ruhe meines Delphischer Lebens, und du, meine Psyche! Dich allein, von allem, was außer mir ist, nenne ich mein, weil du die wertere Hälfte meines Wesens bist – Wenn ihr auf ewig verloren wäret, dann würde meine untröstbare Seele nichts auf Erden finden, daß ihr die Liebe zum Leben wieder geben könnte. Aber ich besaß beide, ohne sie mir selbst gegeben zu haben, und die wohltätige Macht, die sie gab, kann sie wiedergeben. Teure Hoffnung, du bist schon ein Anfang der Glückseligkeit, die du versprichst! Es wäre zugleich gottlos und töricht, sich einem Kummer zu überlassen, der den Himmel beleidigt, und uns selbst der Kräfte beraubt, dem Unglück zu widerstehen, und der Mittel, wieder glücklich zu werden. Komm denn, du süße Hoffnung einer bessern Zukunft, und feßle meine Seele mit deinen schmeichelnden Bezauberungen! Ruhe und Psyche – Dieses allein, ihr Götter, so möget ihr Lorbeer-Kränze und Schätze geben, wem ihr wollt!

    Zweites Buch

    Sechstes Kapitel

    Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sclaven

    HIPPIAS. Du scheinst in Gedanken vertieft, Callias?
    AGATHON. Ich glaubte allein zu sein.
    HIPPIAS. Ein andrer an deiner Stelle würde sich die Freiheit meines Hauses besser zu Nutze machen. Doch vielleicht gefällst du mir um dieser Zurückhaltung willen nur desto besser. Aber mit was für Gedanken vertreibst du dir die Zeit, wenn man fragen darf?
    AGATHON. Die allgemeine Stille, der Mondschein, die rührende Schönheit der schlummernden Natur, die mit den Ausdünstungen der Blumen durchwürzte Nachtluft, tausend angenehme Empfindungen, deren liebliche Verwirrung meine Seele trunken machte, setzte sie in eine Art von Entzückung, worinnen ein andrer Schauplatz von unbekannten Schönheiten sich vor mir auftat; es war nur ein Augenblick, aber ein Augenblick, den ich um eines von den Jahren des Königs von Persien nicht vertauschen wollte.
    HIPPIAS (lächelt.)
    AGATHON. Dieses brachte mich hernach auf die Gedanken, wie glücklich der Zustand der Geister sei, die den groben tierischen Leib abgelegt haben, und im Anschauen des wesentlichen Schönen, des Unvergänglichen, Ewigen und Göttlichen, Jahrtausende durchleben, die ihnen nicht länger scheinen als mir dieser Augenblick; und in den Betrachtungen, denen ich hierüber nachhing, bin ich von dir überraschet worden.
    HIPPIAS. Du schliefst doch nicht, Callias; du hast wie ich sehe, mehr Talente als du nötig hast; du kannst auch wachend träumen?
    AGATHON. Es gibt vielerlei Arten von Träumen, und bei einigen Menschen scheint ihr ganzes Leben Traum zu sein; wenn dieses Träume sind, so sind sie wenigstens angenehmer als alles, was ich in dieser Zeit wachend hätte erfahren können.
    HIPPIAS. Du gedenkest also vielleicht einer von diesen Geistern zu werden, die du so glücklich preisest?
    AGATHON. Ich hoff’ es zu werden, und würde ohne diese Hoffnung mein Dasein für kein Gut achten.
    HIPPIAS. Besitzest du etwan ein Geheimnis, körperliche Wesen in geistige zu erhöhen, einen Zaubertrank von der Art derjenigen, womit die Medeen und Circen der Dichter so wunderbare Verwandlungen zuwege bringen?
    AGATHON. Ich verstehe dich nicht, Hippias.
    HIPPIAS. So will ich deutlicher sein. Wenn ich anders dich verstanden habe, so hältst du dich für einen Geist, der in einen tierischen Leib eingekerkert ist?
    AGATHON. Wofür sollt ich mich sonst halten?
    HIPPIAS. Sind die vierfüßigen Tiere, die Vögel, die Fische, die Gewürme, auch Geister, die in einen tierischen Leib eingeschlossen sind?
    AGATHON. Vielleicht.
    HIPPIAS. Und die Pflanzen?
    AGATHON. Vielleicht auch diese.
    HIPPIAS. Du bauest also deine Hoffnung auf ein Vielleicht. Wenn die Tiere vielleicht auch nicht Geister sind, so bist du vielleicht eben so wenig einer; denn das ist einmal gewiß, daß du ein Tier bist. Du entstehest wie die Tiere, wächsest wie sie, hast ihre Bedürfnisse, ihre Sinnen, ihre Leidenschaften, wirst erhalten wie sie, vermehrest dich wie sie, stirbst wie sie, und wirst wie sie wieder zu einem bißchen Wasser und Erde, wie du vorher gewesen warst. Wenn du einen Vorzug vor ihnen hast, so ist es eine schönere Gestalt, ein paar Hände, mit denen du mehr ausrichten kannst als ein Tier mit seinen Pfoten, eine Bildung gewisser Gliedmaßen, die dich der Rede fähig macht, und ein lebhafterer Witz, der von einer schwächern und reizbarem Beschaffenheit deiner Fibern herkommt; und der doch alle Künste, womit wir uns so groß zu machen pflegen, den Tieren abgelernt hat.
    AGATHON. Wir haben also sehr verschiedene Begriffe von der menschlichen Natur, du und ich.
    HIPPIAS. Vermutlich, weil ich sie für nichts anders halte, als wofür meine Sinnen und eine Beobachtung ohne Vorurteile sie mir geben. Doch ich will freigebig sein; ich will dir zugeben, dasjenige was in dir denkt sei ein Geist, und wesentlich von deinem Körper unterschieden. – Worauf gründest du die Hoffnung, daß dieser Geist noch denken werde, wenn dein Leib zerstört sein wird? Was für eine Erfahrung hast du, eine Meinung zu bestätigen, die von so vielen Erfahrungen bestritten wird? Ich will nicht sagen, daß er zu nichts werde; aber dein Leib verliert durch den Tod die Form die ihn zu deinem Leibe machte; woher hoffest du, daß dein Geist die Form nicht verlieren werde, die ihn zu deinem Geiste macht?
    AGATHON. Weil ich mir unmöglich vorstellen kann, daß der oberste Geist, dessen Geschöpfe oder Ausflüsse die übrigen Geister sind, ein Wesen zerstören werde, das er fähig gemacht hat, so glücklich zu sein, als ich es schon gewesen bin.
    HIPPIAS. Ein neues Vielleicht? Woher kennst du diesen obersten Geist?
    AGATHON. Woher kennst du den Phidias, der diesen Amor gemacht hat?
    HIPPIAS. Weil ich ihm zusah wie er ihn machte; denn vielleicht könnt ein Bildsäule auch entstehen, ohne daß sie von einem Künstler gemacht würde.
    AGATHON. Wie so?
    HIPPIAS. Eine ungefähre Bewegung ihrer kleinsten Elemente könnte diese Form endlich hervorbringen.
    AGATHON. Eine regellose Bewegung ein regelmäßiges Werk?
    HIPPIAS. Warum das nicht? Du kannst im Würfelspiel von ungefähr alle drei werfen. So gut als dieses möglich ist, könntest du auch unter etlichen Billionen von Würfen einen werfen, wodurch eine gewisse Anzahl Sandkörner in eine cirkelrunde Figur fallen würde. Die Anwendung ist leicht zu machen.
    AGATHON. Ich verstehe dich. Aber es bleibt allemal unendlich unwahrscheinlich, daß die ungefähre Bewegung der Elemente nur eine Muschel, deren so unzählich viele an jenem Ufer liegen, hervorbringen; und die Ewigkeit selbst scheint nicht lange genug zu sein, nur diese Erdkugel, diesen kleinen Atomen des ganzen Weltalls auf solche Weise entstehen zu machen.
    HIPPIAS. Es ist genug, daß unter unendlich vielen ungefähren Bewegungen, die nichts regelmäßiges und dauerhaftes hervorbringen, eine möglich ist, die eine Welt hervorbringen kann. Dieses setzt der Wahrscheinlichkeit deiner Meinung ein Vielleicht entgegen, wodurch sie auf einmal entkräftet wird.
    AGATHON. So viel als das Gewicht einer unendlichen Last, durch die Hinwegnahm eines einzigen Sandkorns.
    HIPPIAS. Du hast vergessen, daß eine unendliche Zeit in die andere Waagschale gelegt werden muß. Doch ich will diesen Einwurf fahren lassen, ob er gleich weiter getrieben werden kann; was gewinnt deine Meinung dadurch? Vielleicht ist die Welt immer in der allgemeinen Verfassung gewesen, worin sie ist? – Vielleicht ist sie selbst das einzige Wesen, das durch sich selbst bestehet? Vielleicht ist der Geist von dem du sagtest, durch die wesentliche Beschaffenheit seiner Natur gezwungen, diesen allgemeinen Weltkörper nach den Gesetzen einer unveränderlichen Notwendigkeit zu beleben? Und gesetzt, die Welt sei, wie du meinest, das Werk eines verständigen und freien Entschlusses; vielleicht hat sie viele Urheber? Mit einem Worte, Callias, du hast viele mögliche Fälle zu vernichten, eh du nur das Dasein deines obersten Geistes außer Zweifel gesetzt hast.
    AGATHON. Ich brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen so weitläufigen Weg. Ich sehe die Sonne, sie ist also; ich empfinde mich selbst, ich bin also; ich empfinde, ich sehe diesen obersten Geist, er ist also.
    HIPPIAS. Ein Träumender, ein Kranker, ein Wahnwitziger sieht, und doch ist das nicht, was er sieht.
    AGATHON. Weil er in diesem Zustande nicht recht sehen kann.
    HIPPIAS. Wie kannst du beweisen, daß du nicht gerad in diesem Punct krank bist? Frage die Ärzte; man kann in einem einzigen Stück wahnwitzig, und in allen Übrigen klug sein; so wie eine Laute bis auf eine einzige falsche Saite wohl gestimmt sein kann. Der rasende Ajax sieht zwo Sonnen, ein doppeltes Thebe. Was für ein untrügliches Kennzeichen hast du, das Wahre von dem was nur scheint; das was du würklich empfindest, von dem was du dir nur einbildest; das was du richtig empfindest, von dem was eine verstimmte Nerve dich empfinden macht, zu unterscheiden? Und wie, wenn alle Empfindung betröge, und nichts von allem was ist, so wäre, wie du es empfindest?
    AGATHON. Darum bekümmere ich mich wenig. Gesetzt, die Sonne sei nicht so, wie ich sie sehe und fühle; für mich ist sie darum nicht minder so, wie ich sie sehe und fühle, und das ist für mich genug. Ihr Einfluß in das System aller meiner übrigen Empfindungen ist darum nicht weniger würklich, wenn sie gleich nicht so ist, wie sie sich meinen Sinnen darstellt, ja wenn sie gar nicht ist.
    HIPPIAS. Die Anwendung hievon, wenn dirs beliebt?
    AGATHON. Die Empfindung, die ich von dem höchsten Geiste habe, hat in das innerliche System des meinigen den nämlichen Einfluß, den die Empfindung die ich von der Sonne habe, auf mein körperliches System hat.
    HIPPIAS. Wie so?
    AGATHON. Wenn sich mein Leib übel befindet, so vermehrt die Abwesenheit der Sonne das Unbehagliche dieses Zustands. Der wiederkehrende Sonnenschein belebt, ermuntert, erquicket meinen Körper wieder, und ich befinde mich wohl, oder doch erleichtert. Eben diese Würkung tut die Empfindung des alles beseelenden Geistes auf meine Seele; sie erheitert, sie beruhiget, sie ermuntert mich; sie zerstreut meinen Unmut, sie belebt meine Hoffnung; sie macht, daß ich in einem Zustande nicht unglücklich bin, der mir ohne sie unerträglich wäre.
    HIPPIAS. Ich bin also glücklicher als du, weil ich alles dieses nicht nötig habe. Erfahrung und Nachdenken haben mich von Vorurteilen frei gemacht; ich genieße alles was ich wünsche, und wünsche nichts, dessen Genuß nicht in meiner Gewalt ist. Ich weiß also wenig von Unmut und Sorgen. Ich hoffe wenig, weil ich mit dem Genuß des Gegenwärtigen zu frieden bin. Ich genieße mit Mäßigung, damit ich desto länger genießen könne, und wenn ich einen Schmerz fühle, so leide ich mit Geduld, weil dieses das beste Mittel ist, seine Dauer abzukürzen.
    AGATHON. Und worauf gründest du deine Tugend? Womit nährest und belebest du sie? Womit überwindest du die Hindernisse, die sie aufhalten; die Versuchungen, die von ihr ablocken, das ansteckende der Beispiele, die Unordnung der Begierden, und die Trägheit, welche die Seele so oft erfährt, wenn sie sich erheben will?
    HIPPIAS. O Jüngling, lange genug hab ich deinen Ausschweifungen zugehört. In was für ein Gewebe von Hirngespinsten hat dich die Lebhaftigkeit deiner Einbildungskraft verwickelt? Deine Seele schwebt in einer beständigen Bezauberung, in einer Abwechselung von quälenden und entzückenden Träumen, und die wahre Beschaffenheit der Dinge bleibt dir so verborgen, als die sichtbare Gestalt der Welt einem Blindgebornen. Ich bedaure dich, Callias. Deine Gestalt, deine Gaben berechtigen dich nach allem zu trachten, was das menschliche Leben glückliches hat; deine Denkungsart allein wird dich unglücklich machen. Angewöhnt lauter idealische Wesen um dich her zu sehen, wirst du die Kunst niemals lernen, von den Menschen Vorteil zu ziehen. Du wirst in einer Welt, die dich so wenig kennen wird als du sie, wie ein Einwohner des Monds herum irren, und nirgends am rechten Platze sein, als in einer Einöde oder im Fasse des Diogenes. Was soll man mit einem Menschen anfangen, der Geister sieht? Der von der Tugend fodert, daß sie mit aller Welt und mit sich selbst in beständigem Kriege leben soll? Mit einem Menschen, der sich in den Mondschein hinsetzt, und Betrachtungen über das Glück der entkörperten Geister anstellt? Glaube mir, Callias, (ich kenne die Welt und sehe keine Geister) deine Philosophie mag vielleicht gut genug sein eine Gesellschaft müßiger Köpfe statt eines andern Spiels zu belustigen; aber es ist eine Torheit sie ausüben zu wollen. Doch du bist jung; die Einsamkeit deiner ersten Jugend und die morgenländischen Schwärmereien, die etliche griechische Müßiggänger von den Egyptern und Chaldäern nach Hause gebracht, haben deiner Phantasie einen romanhaften Schwung gegeben; die übermäßige Empfindlichkeit deiner Organisation hat den angenehmen Betrug befödert; Leuten von dieser Art ist nichts schön genug, was sie sehen, nichts angenehm genug, was sie fühlen; die Phantasie muß ihnen andre Welten erschaffen, die Unersättlichkeit ihres Herzens zu befriedigen. Allein diesem Übel kann noch geholfen werden. Selbst in den Ausschweifungen deiner Einbildungskraft entdeckt sich eine natürliche Richtigkeit des Verstandes, der nichts fehlt als auf andre Gegenstände angewendet zu werden. Ein wenig Gelehrigkeit und eine unparteiische Überlegung dessen, was ich dir sagen werde, ist alles was du nötig hast, um von dieser seltsamen Art von Wahnwitz geheilt zu werden, die du für Weisheit hältst. Überlaß es mir, dich aus den unsichtbaren Welten in die würkliche herabzuführen; sie wird dich anfangs befremden, aber nur weil sie dir neu ist, und wenn du sie einmal gewohnt bist, wirst du die ätherischen so wenig vermissen als ein Erwachsner die Spiele seiner Kindheit. Diese Schwärmereien sind Kinder der Einsamkeit und der Muße; ein Mensch der nach angenehmen Empfindungen dürstet, und der Mittel beraubt ist, sich würkliche zu verschaffen, ist genötiget sich mit Einbildungen zu speisen, und aus Mangel einer bessern Gesellschaft mit den Sylphen umzugehen. Die Erfahrung wird dich hievon am besten überzeugen können. Ich will dir die Geheimnisse einer Weisheit entdecken, die zum Genuß alles dessen führt, was die Natur, die Kunst, die Gesellschaft, und selbst die Einbildung (denn der Mensch ist doch nicht gemacht immer weise zu sein) Gutes und Angenehmes zu geben haben; und ich müßte mich ganz mit dir betrügen, wenn die Stimme der Vernunft, die du noch niemals gehört zu haben scheinst, dich nicht von einem Irrwege zurückrufen könnte, wo du am Ende deiner Reise in das Land der Hoffnungen dich um nichts reicher befinden würdest, als um die Erfahrung dich betrogen zu haben. Izo ist es Zeit schlafen zu gehen; aber der nächste ruhige Morgen den ich habe, soll dein sein. Ich brauche dir nicht zu sagen, wie zufrieden ich mit der Art bin, wie du bisher dein Amt versehen hast; und ich wünsche nichts, als daß eine bessere Übereinstimmung unsrer Denkungsart mich in den Stand setze, dir Beweise von meiner Freundschaft zu geben.

    Mit diesen Worten begab sich Hippias hinweg, und ließ unsern Agathon in einer Verfassung, die der Leser aus dem folgenden Capitel ersehen wird.

    Siebentes Kapitel

    Worin Agathon für einen Schwärmer ziemlich gut räsonniert

    Wir zweifeln nicht, daß verschiedene Leser dieser Geschichte in der Vermutung stehen werden, Agathon müsse über diese nachdrucksvolle Apostrophe des weisen Hippias nicht wenig betroffen, oder doch wenigstens in einige Unruhe gesetzt worden sein. Das Alter des Hippias, der Ruf der Weisheit, worin er stand, der zuversichtliche Ton, womit er sprach, der Schein von Wahrheit der über seine Rede ausgebreitet war; und was nicht das wenigste scheint, das Ansehen, welches ihm seine Reichtümer gaben; alle diese Umstände hätten nicht fehlen sollen, einen Menschen aus der Fassung zu setzen, der ihm so viele Vorzüge eingestehen mußte, und über das noch sein Sclave war. Allein man kann sich irren. Agathon hatte diese ganze emphatische Rede mit einem Lächeln angehört, welches fähig gewesen wäre, alle Sophisten der Welt irre zu machen, wenn die Dunkelheit und das Vorurteil des Redners für sich selbst es hätten bemerken lassen; und kaum befand er sich allein, so war die erste Würkung derselben, daß dieses Lächeln sich in ein Lachen verwandelte, welches er zum Nachteil seines Zwerchfells länger zurückzuhalten unnötig hielt, und welches immer wieder anfing, so oft er sich die Mine, den Ton und die Gebärden vorstellte, womit der weise Hippias die nachdrücklichsten Stellen seiner Rede von sich gegeben hatte. Allein diese mechanische Bewegung machte bald ernsthaftem Gedanken Platz, und es fehlte wenig, so hätte er sich selbst Vorwürfe darüber gemacht, daß er fähig gewesen darüber zu lachen, daß ein so großer Unterschied zwischen Hippias und Agathon war. Ein Mensch, der so lebt wie Hippias, dacht’ er, muß so denken; und wer so denkt wie Hippias würde unglücklich sein, wenn er nicht so leben könnte. Ich muß lachen, fuhr er mit sich selbst fort, wenn ich an den Ton der Unfehlbarkeit denke, womit er sprach. Dieser Ton ist mir nicht so neu, als der weise Hippias glauben mag. Ich habe Gerber und Sackträger zu Athen gekannt, die sich nicht zu wenig deuchten, mit dem ganzen Volk in diesem Ton zu sprechen. Du glaubst mir etwas neues gesagt zu haben, wenn du meine Denkungsart Schwärmerei nennst, und mir mit der Gewißheit eines Propheten die Schicksale ankündigest, die sie mir zuziehen wird. Wie sehr betrügst du dich, wenn du mich dadurch erschreckt zu haben glaubst! O! Hippias, was ist das, was du Glückseligkeit nennest? Niemals wirst du fähig sein, zu wissen was Glückseligkeit ist. Was du so nennst ist Glückseligkeit, wie das Liebe ist, was dir deine Tänzerinnen einflößen.. Du nennst die meinige Schwärmerei; laß mich immer ein Schwärmer sein, und sei du ein Weiser. Die Natur hat dir diese Empfindlichkeit, diese innerlichen Sinnen versagt, die den Unterschied zwischen uns beiden machen; du bist einem Tauben ähnlich, der die fröhlichen Bewegungen, welche die begeisternde Flöte eines Damon in alle Glieder seiner Hörer bringt, dem Wein oder der Unsinnigkeit zuschreibt; er würde tanzen wie sie, wenn er hören könnte. Die Weltleute sind in der Tat nicht zu verdenken, wenn sie uns andre für ein wenig mondsüchtig halten; wer will ihnen zumuten, daß sie glauben sollen, es fehle ihnen etwas, das zu einem vollständigen Menschen gehört? Ich kannte zu Athen ein junges Frauenzimmer, welches die Natur wegen der Häßlichkeit ihrer übrigen Figur durch sehr artige Füße getröstet hatte. Ich möchte doch wissen, sagte sie zu einer Freundin, was diese jungen Gecken an der einbildischen Timandra sehen, daß sie sonst für niemand Augen haben als für sie? Es ist wahr, sie hat keine unfeine Farbe, ihre Züge sind so so, ihre Augen wenigstens aufmunternd genug, und sie ist sehr besorgt, ihre Bewunderer durch Auslegung gewisser schlüpfriger Schönheiten für die Gleichgültigkeit ihres Gesichts schadlos zu halten; aber was sie für Füße hat! Wie kann man einen Anspruch an Schönheit machen, ohne einen feinen Fuß zu haben? Du hast Recht, versetzte die Freundin, die der Natur nichts schönes zu danken hatte, als ein paar überaus kleine Ohren; man muß einen Fuß haben wie du, um schön zu sein; aber was sagst du zu ihren Ohren, Hermia? So wahr mir Diana gnädig sei, sie würden einem Faunen Ehre machen. So sind die Menschen, und es wäre unbillig ihnen übel zu nehmen, daß sie so sind. Die Nachtigall singt, der Rabe krächzt, und er müßte kein Rabe sein, wenn er nicht dächte, daß er gut krächze; er hat noch recht, wenn er denkt, die Nachtigall krächze nicht gut; es ist wahr, dann geht er zu weit, wenn er über die Nachtigall spottet, daß sie nicht so gut krächzt wie er; aber sie würde eben so Unrecht haben, wenn sie über ihn lachte, daß er nicht singe wie sie; er singt nicht, aber er krächzt doch gut, und das ist für ihn genug. Aber Hippias ist besorgt für mich, er bedaurt mich, er will mich so glücklich machen, wie er ist. Das ist großmütig! Er hat ausfündig gemacht, daß ich das Schöne liebe, daß ich gegen den Reiz des Vergnügens nicht unempfindlich bin. Diese Entdeckung war leicht zu machen; aber in den Schlüssen, die er daraus zieht, könnt’ er sich betrogen haben. Der kluge Ulysse zog sein steinichtes kleines Ithaca, wo er frei war, und sein altes Weib mit der er vor zwanzig Jahren jung gewesen war, der bezauberten Insel der schönen Calyps vor, wo er unsterblich und ein Sclave gewesen wäre; und der Schwärmer Agathon würde mit allem seinem Geschmack für das Schöne, und mit aller seiner Empfindlichkeit für die Ergötzungen, ohne sich einen Augenblick zu bedenken, lieber in das Faß des Diogenes kriechen, als den Palast, die Gärten, das Serail und die Reichtümer des weisen Hippias besitzen, und Hippias sein.
        Immer Selbstgespräche, hören wir den Leser sagen. Wenigstens ist dieses eines, und wer kann davor? Agathon hatte sonst niemand, mit dem er hätte reden können als sich selbst; denn mit den Bäumen und Nymphen reden nur die Verliebten. Wir müssen uns schon entschließen, ihm diese Unart zu gut zu halten, und wir sollten es desto eher tun können, da ein so feiner Weltmann als Horaz unstreitig war, sich nicht geschämt hat zu gestehen, daß er öfters mit sich selbst zu reden pflege.

    Fünftes Buch

    Achtes Kapitel

    Eine Abschweifung, wodurch der Leser zum Folgenden vorbereitet wird

    Wir können die Verlegenheit nicht verbergen, in welche wir uns durch die Umstände gesetzt finden, worin wir unsern Helden zu Ende des vorigen Capitels verlassen haben. Sie drohen dem erhabnen Charakter, den er bisher mit einer so rühmlichen Standhaftigkeit behauptet, und wodurch er sich zweifelsohne in eine nicht gemeine Hochachtung bei unsern Lesern gesetzt hat, einen Abfall, der denenjenigen, welche von einem Helden eine vollkommene Tugend fordern, eben so anstößig sein wird, als ob sie, nach allem was bereits mit ihm vorgegangen, natürlicher Weise etwas bessers hätten erwarten können.
         Wie groß ist in diesem Stücke der Vorteil eines Romanendichters vor demjenigen, welcher sich anheischig gemacht hat, ohne Vorurteil oder Parteilichkeit, mit Verleugnung des Ruhms, den er vielleicht durch Verschönerung seiner Charakter, und durch Erhebung des Natürlichen ins Wunderbare sich hätte erwerben können, der Natur und Wahrheit in gewissenhafter Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben! Wenn jener die ganze grenzenlose Welt des Möglichen zu freiem Gebrauch vor sich ausgebreitet sieht; wenn seine Dichtungen durch den mächtigen Reiz des Erhabnen und Erstaunlichen schon sicher genug sind, unsre Einbildungskraft und unsre Eitelkeit auf seine Seite zu bringen; wenn schon der kleinste Schein von Übereinstimmung mit der Natur hinlänglich ist, die Freunde des Wunderbaren, welche immer die größeste Zahl ausmachen, von ihrer Möglichkeit zu überzeugen; ja, wenn er volle Freiheit hat, die Natur selbst umzuschaffen, und, als ein andrer Prometheus, den geschmeidigen Ton, aus welchem er seine Halbgötter und Halbgöttinnen bildet, zu gestalten wie es ihm beliebt, oder wie es die Absicht, die er auf uns haben mag, erheischet: So sieht sich hingegen der arme Geschichtschreiber genötiget, auf einem engen Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußstapfen der vor ihm hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegenstand so groß oder so klein, so schön oder so häßlich, wie er ihn würklich findet, abzumalen; die Würkungen so anzugeben, wie sie vermöge der unveränderlichen Gesetze der Natur aus ihren Ursachen herfließen; und wenn er seiner Pflicht ein völliges Genügen getan hat, sich gefallen zu lassen, daß man seinen Helden am Ende um wenig oder nichts schätzbarer findet, als der schlechteste unter seinen Lesern sich ohngefähr selbst zu schätzen pflegt.
         Vielleicht ist kein unfehlbarers Mittel mit dem wenigsten Aufwand von Genie, Wissenschaft und Erfahrenheit ein gepriesener Schriftsteller zu werden, als wenn man sich damit abgibt, Menschen (denn Menschen sollen es doch sein) ohne Leidenschaften, ohne Schwachheit, ohne allen Mangel und Gebrechen, durch etliche Bände voll wunderreicher Abenteure, in der einförmigsten Gleichheit mit sich selbst, herumzuführen. Eh ihr es euch verseht, ist ein Buch fertig, das durch den erbaulichen Ton einer strengen Sittenlehre, durch blendende Sentenzen, durch Charaktere und Handlungen, die eben so viele Muster sind, den Beifall aller der gutherzigen Leute überraschet, welche jedes Buch, das die Tugend anpreist, vortrefflich finden. Und was für einen Beifall kann sich ein solches Werk erst alsdenn versprechen, wenn der Verfasser die Kunst oder die natürliche Gabe besitzt, seine Schreibart auf den Ton der Begeisterung zu stimmen, und, verliebt in die schönen Geschöpfe seiner erhitzten Einbildungskraft, die Meinung von sich zu erwecken, daß ers in die Tugend selber sei. Umsonst mag dann ein verdächtiger Kunstrichter sich heiser schreien, daß ein solches Werk eben so wenig für die Talente seines Urhebers beweise, als es der Welt Nutzen schaffe; umsonst mag er vorstellen, wie leicht es sei, die Definitionen eines Auszugs der Sittenlehre in Personen, und die Maximen des Epictets in Handlungen zu verwandeln; umsonst mag er beweisen, daß die unfruchtbare Bewunderung einer schimärischen Vollkommenheit, welche man nachzuahmen eben so wenig wahren Vorsatz als Vermögen hat, das äußerste sei, was diese wackere Leute von ihren hochfliegenden Bemühungen zum Besten einer ungelehrigen Welt erwarten können: Der weisere Tadler heißt ihnen ein Zoilus, und hat von Glück zu sagen, wenn das Urteil das er von einem so moralischen Werke des Witzes fällt, nicht auf seinen eignen sittlichen Charakter zurückprallt, und die gesundere Beschaffenheit seines Gehirns nicht zu einem Beweise seines schlimmen Herzens gemacht wird. Und wie sollte es auch anders sein können? Unsre Eitelkeit ist zusehr dabei interessiert, als daß wir uns derjenigen nicht annehmen sollten, welche unsre Natur, wiewohl eignen Gewalts, zu einer so großen Hoheit und Würdigkeit erhalten. Es schmeichelt unserm Stolze, der sich ungern durch so viele Zeichen von Vorzügen des Stands, des Ansehens, der Macht und des äußerlichen Glanzes unter andre erniedriget sieht, die Mittel (wenigstens so lange das angenehme Blendwerk daurt) in seiner Gewalt zu sehen, sich über die Gegenstände seines Neides hinauf schwingen, und sie tief im Staube unter sich zurücklassen zu können. Und wenn gleich die unverhehlbare Schwäche unsrer Natur uns auf der einen Seite, zu großem Vorteil unsrer Trägheit, von der Ausübung heroischer Tugenden loszählt; so ergötzt sich doch inzwischen unsre Eigenliebe an dem süßen Wahne, daß wir eben so wundertätige Helden gewesen sein würden, wenn uns das Schicksal an ihren Platz gesetzt hätte.
         Wir müssen uns gefallen lassen, wie diese gewagten Gedanken, so natürlich und wahr sie uns scheinen, von den verschiednen Classen unsrer Leser aufgenommen werden mögen: Und wenn wir auch gleich Gefahr laufen sollten, uns ungünstige Vorurteile zuzuziehen; so können wir doch nicht umhin, diese angefangene Betrachtung um so mehr fortzusetzen, je größer die Beziehung ist, welche sie auf den ganzen Inhalt der vorliegenden Geschichte hat.
         Unter allen den übernatürlichen Charaktern, welche die mehrbelobten romanhaften Sittenlehrer in einen gewissen Schwung von Hochachtung gebracht haben, sind sie mit keinem glücklicher gewesen, als mit dem Heldentum in der Großmut, in der Tapferkeit und in der verliebten Treue. Daher finden wir die Liebensgeschichten, Ritterbücher und Romanen, von den Zeiten des guten Bischofs Heliodorus bis zu den unsrigen, von Freunden, die einander alles, sogar die Forderungen ihrer stärksten Leidenschaften, und das angelegenste Interesse ihres Herzens aufopfern; von Rittern, welche immer bereit sind, der ersten Infantin, die ihnen begegnet, zu gefallen, sich mit allen Riesen und Ungeheuern der Welt herumzuhauen; und (bis Crebillon eine bequemere Mode unter unsre Nachbarn jenseits des Rheins aufgebracht hat) beinahe von lauter Liebhabern angefüllt, welche nichts angelegners haben, als in der Welt herumzuziehen, um die Namen ihrer Geliebten in die Bäume zu schneiden, ohne daß die reizendesten Versuchungen, denen sie von Zeit zu Zeit ausgesetzt sind, vermögend wären, ihre Treue nur einen Augenblick zu erschüttern. Man müßte wohl sehr eingenommen sein, wenn man nicht sehen sollte, warum diese vermeinten Heldentugenden in eine so große Hochachtung gekommen sind. Von je her haben die Schönen sich berechtiget gehalten, eine Liebe, welche ihnen alles aufopfert, und eine Beständigkeit, die gegen alle andre Reizungen unempfindlich ist, zu erwarten. Sie gleichen in diesem Stücke den großen Herren, welche verlangen, daß unserm Eifer nichts unmöglich sein solle, und die sich sehr wenig darum bekümmern, ob uns dasjenige, was sie von uns fordern, gelegen, oder ob es überhaupt recht und billig sei, oder nicht. Eben so ist es für unsre Beherrscherinnen schon genug, daß der Vorteil ihrer Eitelkeit und ihrer übrigen Leidenschaften sich bei diesen vorgeblichen Tugenden am besten befindet, um einen Artabanus oder einen Grafen von Comminges zu einem größern Mann in ihren Augen zu machen, als alle Helden des Plutarchs zusammengenommen. Und ist die unedle Eigennützigkeit oder der feige Kleinmut, womit wir (zumal bei jenen Völkern, wo der Tod aus sittlichen Ursachen mehr als natürlich ist, gefürchtet wird) den größesten Teil der bürgerlichen Gesellschaft angesteckt sehen, vielleicht weniger interessiert, eine sich selbst ganz vergessende Großmut und eine Tapferkeit, die von nichts erzittert, zu vergöttern? Je vollkommener andre sind, desto weniger haben wir nötig es zu sein; und je höher sie ihre Tugend treiben, desto weniger haben wir bei unsern Lastern zu besorgen.
         Der Himmel verhüte, daß unsre Absicht jemals sei, in schönen Seelen diese liebenswürdige Schwärmerei für die Tugend abzuschrecken, welche ihnen so natürlich und öfters die Quelle der lobenswürdigsten Handlungen ist. Alles was wir mit diesen Bemerkungen abzielen, ist allein, daß die romanhaften Helden, von denen die Rede ist, noch weniger in dem Bezirke der Natur zu suchen seien als die geflügelten Löwen und die Fische mit Mädchenleibern; daß es moralische Grotesken seien, welche eine müßige Einbildungskraft ausbrütet, und ein verdorbner moralischer Sinn, nach Art gewisser Indianer, destomehr vergöttert, je weiter ihre verhältniswürdige Mißgestalt von der menschlichen Natur sich entfernet, welche doch, mit allen ihren Mängeln, das beste, liebenswürdigste und vollkommenste Wesen ist das wir würklich kennen – – und daß also der Held unsrer Geschichte, durch die Veränderungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen sehen, zwar allerdings, wir gestehen es, weniger ein Held, aber destomehr ein Mensch, und also desto geschickter sei, uns durch seine Erfahrungen, und selbst durch seine Fehler zu belehren.
         Wir können indes nicht bergen, daß wir aus verschiednen Gründen in Versuchung geraten sind, der historischen Wahrheit dieses einzige mal Gewalt anzutun, und unsern Agathon, wenn es auch durch irgend einen Deum ex Machina hätte geschehen müssen, so unversehrt aus der Gefahr, worin er sich würklich befindet, herauszuwickeln, als es für die Ehre des Platonismus, die er bisher so schön behauptet hat, allerdings zu wünschen gewesen wäre. Allein da wir in Erwägung zogen, daß diese einzige poetische Freiheit uns nötigen würde, in der Folge seiner Begebenheiten so viele andre Veränderungen vorzunehmen, daß die Geschichte Agathons würklich die Natur einer Geschichte verloren hätte, und zur Legende irgend eines moralischen Don Esplandians geworden wäre: So haben wir uns aufgemuntert, über alle die ekeln Bedenklichkeiten hinauszugehen, die uns anfänglich stutzen gemacht hatten, und uns zu überreden, daß der Nutzen, den unsre verständigen Leser sogar von den Schwachheiten unsers Helden in der Folge zu ziehen Gelegenheit bekommen könnten, ungleich größer sein dürfte, als der zweideutige Vorteil, den die Tugend dadurch erhalten hätte, wenn wir, durch eine unwahrscheinlichere Dichtung als man im ganzen Orlando unsers Freunds Ariost finden wird, die schöne Danae in die Notwendigkeit gesetzt hätten, in der Stille von ihm zu denken, was die berühmte Phryne bei einer gewissen Gelegenheit von dem weisen Xenocrates öffentlich gesagt haben soll.
         So wisset dann, schöne Leserinnen, (und hütet euch, stolz auf diesen Sieg eurer Zaubermacht zu sein,) daß Agathon, nachdem er eine ziemliche Weile in einem Gemütszustand, dessen Abschilderung den Pinsel eines Thomsons oder Geßners erfoderte, allein zurückgeblieben war, wir wissen nicht ob aus eigner Bewegung oder durch den geheimen Antrieb irgend eines antiplatonischen Genius den Weg gegen einen Pavillion genommen, der auf der Morgenseite des Gartens in einem kleinen Hain von Citronen- Granaten- und Myrthenbäumen auf jonischen Säulen von Jaspis ruhte; daß er, weil er ihn erleuchtet gefunden, hineingegangen, und nachdem er einen Saal, dessen herrliche Auszierung ihn nicht einen Augenblick aufhalten konnte, und zwei oder drei kleinere Zimmer durchgeeilet, in einem Cabinet, welches für die Ruhe der Liebesgöttin bestimmt schien, die schöne Danae auf einem Sofa von nelkenfarbem Atlas schlafend angetroffen; daß er, nachdem er sie eine lange Zeit in unbeweglicher Entzückung und mit einer Zärtlichkeit, deren innerliches Gefühl alle körperliche Wollust an Süßigkeit übertrifft, betrachtet hatte, endlich – – – – von der Gewalt der allmächtigen Liebe bezwungen, sich nicht länger zu enthalten vermocht, zu ihren Füßen kniend, eine von ihren nachlässig ausgestreckten schönen Händen mit einer Inbrunst, wovon wenige Liebhaber sich eine Vorstellung zu machen jemals verliebt genug gewesen sind, zu küssen, ohne daß sie daran erwacht wäre; daß er hierauf noch weniger als zuvor sich entschließen können, so unbemerkt als er gekommen, sich wieder hinwegzuschleichen; und kurz, daß die kleine Psyche, die Tänzerin, welche seit der Pantomime, man weiß nicht warum, gar nicht seine Freundin war, mit ihren Augen gesehen haben wollte, daß er eine ziemliche Weile nach Anbruch des Tages, allein, und mit einer Mine, aus welcher sich sehr vieles habe schließen lassen, aus dem Pavillion hinter die Myrthenhecken sich weggestohlen habe.

    Zweiter Teil

    Achtes Buch

    Sechstes Kapitel

    Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze

    Wer aus den Fehlern, welche von andern vor ihm gemacht worden, oder noch täglich um ihn her gemacht werden, die Kunst lernte selbst keine zu machen; würde unstreitig den Namen des Weisesten unter den Menschen mit größerm Recht verdienen als Confucius, Socrates oder König Salomon, welcher letzte, wider den gewöhnlichen Lauf der Natur, seine größesten Torheiten in dem Alter beging, wo die meisten von den ihrigen zurückkommen. Unterdessen bis diese Kunst erfunden sein wird, deucht uns, man könne denjenigen immer für weise gelten lassen, der die wenigsten Fehler macht, am bäldesten davon zurückkommt, und sich gewisse Cautelen für zukünftige Fälle darauszieht, mittelst deren er hoffen kann, künftig weniger zu fehlen.
    Ob und in wie fern Agathon dieses Prädicat verdiene, mögen unsre Leser zu seiner Zeit selbst entscheiden; wir unsers Orts haben in keinerlei Absicht einiges Interesse ihn besser zu machen, als er in der Tat war; wir geben ihn für das was er ist; wir werden mit der bisher beobachteten historischen Treue fortfahren, seine Geschichte zu erzählen; und versichern ein für allemal, daß wir nicht dafür können, wenn er nicht allemal so handelt, wie wir vielleicht selbst hätten wünschen mögen, daß er gehandelt hätte.
    Er hatte während seiner Fahrt nach Sicilien, welche durch keinen widrigen Zufall beunruhiget wurde, Zeit genung, Betrachtungen über das, was zu Smyrna mit ihm vorgegangen war anzustellen. Wie? rufen hier einige Leser, schon wieder Betrachtungen? Allerdings, meine Herren; und in seiner Situation würde es ihm nicht zu vergeben gewesen sein, wenn er keine angestellt hätte. Desto schlimmer für euch, wenn ihr, bei gewissen Gelegenheiten, nicht so gerne mit euch selbst redet als Agathon; vielleicht würdet ihr sehr wohl tun, ihm diese kleine Gewohnheit abzulernen.
    Es ist für einen Agathon nicht so leicht, als für einen jeden andern, die Erinnerung einer begangenen Torheit von sich abzuschütteln. Braucht es mehr als einen einzigen Fehler, um den Glanz des schönsten Lebens zu verdunkeln? Wie verdrießlich, wenn wir an einem Meisterstücke der Kunst, an einem Gemälde oder Gedichte zum Exempel, Fehler finden, welche sich nicht verbessern lassen, ohne das Ganze zu vernichten? Wie viel verdrießlicher, wenn es nur ein einziger Fehler ist, der dem schönen Ganzen die Ehre der Vollkommenheit raubt? Ein Gefühl von dieser Art war schmerzhaft genug, um unsern Mann zu vermögen, über die Ursachen seines Falles schärfer nachzudenken. Wie errötete er izt vor sich selbst, da er sich der allzutrotzigen Herausforderung erinnerte, wodurch er ehmals den Hippias gereizt, und gewissermaßen berechtiget hatte, den Versuch an ihm zu machen, ob es eine Tugend gebe, welche die Probe der stärksten und schlauesten Verführung aushalte – – Was machte ihn damals so zuversichtlich? – – die Erinnerung des Sieges, den er über die Priesterin zu Delphi erhalten hatte? Oder das gegenwärtige Bewußtsein der Gleichgültigkeit, worin er bei den Reizungen der jungen Cyane geblieben war? Die Erfahrung, daß die Versuchungen, welche seiner Unschuld im Hause des Sophisten auf allen Seiten nachstellten, ihn weniger versucht als empört hatten? – – der Abscheu vor den Grundsätzen des Hippias – – und das Vertrauen auf die eigentümliche Stärke der seinigen? – – Aber, war es eine Folge, daß derjenige, der etliche mal gesiegt hatte, niemals überwunden werden könne? War nicht eine Danae möglich, welche das auszuführen geschickt war, was die Pythia, was die Thrazischen Bacchantinnen, was Cyane, und vielleicht alle Schönen im Serail des Königs von Persien nicht vermochten, oder vermocht hätten? – – Und was für Ursache hatte er, sich auf die Stärke seiner Grundsätze zu verlassen? – – Auch in diesem Stücke schwebte er in einem subtilen Selbstbetrug, den ihm vielleicht nur die Erfahrung sichtbar machen konnte. Entzückt von der Idee der Tugend, ließ er sich nicht träumen, daß das Gegenteil dieser intellectualischen Schönheit jemals Reize für seine Seele haben könnte. Die Erfahrung mußte ihn belehren, wie betrüglich unsere Ideen sind, wenn wir sie unvorsichtig realisieren – – Betrachtet die Tugend in sich selbst, in ihrer höchsten Vollkommenheit – – so ist sie göttlich, ja (nach dem kühnen aber richtigen Ausdruck eines vortrefflichen Schrift-Stellers) die Gottheit selbst. – – Aber welcher Sterbliche ist berechtigt, auf die allmächtige Stärke dieser idealen Tugend zu trotzen? Es kömmt bei einem jeden darauf an wie viel die seinige vermag. – – Was ist häßlicher als die Idee des Lasters? Agathon glaubte sich also auf die Unmöglichkeit, es jemals liebenswürdig zu finden, verlassen zu können, und betrog sich, – – weil er nicht daran dachte, daß es ein zweifelhaftes Licht gibt, worin die Grenzen der Tugend und der Untugend schwimmen; worin Schönheit und Grazien dem Laster einen Glanz mitteilen, der seine Häßlichkeit übergüldet, der ihm sogar die Farbe und Anmut der Tugend gibt? und daß es allzuleicht ist, in dieser verführischen Dämmerung sich aus dem Bezirk der letztern in eine unmerkliche Spiral-Linie zu verlieren, deren Mittel-Punct ein süßes Vergessen unsrer selbst und unsrer Pflichten ist.

    Von dieser Betrachtung, welche unsern Helden die Notwendigkeit eines behutsamen Mißtrauens in die Stärke guter Grundsätze lehrte; und wie gefährlich es sei, sie für das Maß unsrer Kräfte zu halten; ging er zu einer andern über, die ihn von der wenigen Sicherheit überzeugte, welche sich unsre Seele in diesem Zustand eines immerwährenden moralischen Enthusiasmus versprechen kann, wie derjenige, worin die seinige zu eben der Zeit war, als sie in dem feingewebten Netze der schönen Danae gefangen wurde. Er rief alle Umstände in sein Gemüte zurück, welche zusammen gekommen waren, ihm diese reizungsvolle Schwärmerei so natürlich zu machen; und erinnerte sich der verschiednen Gefahren, denen er sich dadurch ausgesetzt gesehen hatte. Zu Delphi fehlte es wenig, daß sie ihn den Nachstellungen eines verkappten Apollo preis gegeben hätte – – zu Athen hatte sie ihn seinen arglistigen Feinden würklich in die Hände geliefert. Doch, aus diesen beiden Gefahren hatte er seine Tugend davon gebracht; ein unschätzbares Kleinod, dessen Besitz ihn gegen den Verlust alles andern, was ein Günstling des Glückes verlieren kann, unempfindlich machte. Aber durch eben diesen Enthusiasmus unterlag sie endlich den Verführungen seines eignen Herzens eben so wohl als den Kunstgriffen der schönen Danae. War nicht dieses zauberische Licht, welches seine Einbildungs-Kraft gewohnt war, über alles, was mit seinen Ideen übereinstimmte, auszutreiben; war nicht diese unvermerkte Unterschiebung des Idealen an die Stelle des Würklichen, die wahre Ursache, warum Danae einen so außerordentlichen Eindruck auf sein Herz machte? War es nicht diese begeisterte Liebe zum Schönen, unter deren schimmernden Flügeln verborgen, die Leidenschaft mit sanftschleichenden Progressen sich endlich durch seine ganze Seele ausbreitete? War es nicht die lange Gewohnheit sich mit süßen Empfindungen zu nähren, was sie unvermerkt erweichte, um desto schneller an einer so schönen Flamme dahinzuschmelzen? Mußte nicht der Hang zu phantasierten Entzückungen, so geistig auch immer ihre Gegenstände sein mochten, endlich nach denenjenigen lüstern machen, vor welchen ihm ein unbekanntes, verworrenes, aber desto lebhafteres innerliches Gefühl den würklichen Genuß dieser vollkommensten Wonne versprach, wovon bisher nur vorüberblitzende Ahnungen seine Einbildung berührt, und durch diese leichte Berührung schon außer sich selbst gesetzt hatten? Hier erinnerte sich Agathon der Einwürfe, welche ihm Hippias gegen diesen Enthusiasmus, und diejenige Art von Philosophie, die ihn hervorbringt und unterhält, gemacht hatte; und befand sie izt mit seiner Erfahrung so übereinstimmend, als sie ihm damals falsch und ungereimt vorgekommen waren. Er fand sich desto geneigter, der Meinung des Sophisten, von dem Ursprung und der wahren Beschaffenheit dieser hochfliegenden Begeisterung Beifall zu geben; da es ihm, seitdem er sie in den Armen der schönen Danae verloren hatte, unmöglich geblieben war, sich wieder in sie hineinzusetzen; und da selbst das lebhaftere Gefühl für die Tugend, wovon sein Herz wieder erhitzt war, weder seinen sittlichen Ideen diesen Firniß, den sie ehemals hatten, wiedergeben, noch die dichterische Metaphysik der Orphischen Secte wieder in die vorige Achtung bei ihm setzen konnte. Er glaubte durch die Erfahrung überwiesen zu sein, daß dieses innerliche Gefühl, durch dessen Zeugnis er die Schlüsse des Sophisten zu entkräften vermeint hatte, nur ein sehr zweideutiges Kennzeichen der Wahrheit sei; daß Hippias eben soviel Recht habe, seinen tierischen Materialismus und seine verderbliche Moral, als die Theosophen ihre geheimnisvolle Geister-Lehre durch die Stimme innerlicher Gefühle und Erfahrungen zu autorisieren; und daß es vermutlich allein dem verschiednen Schwung unsrer Einbildungs-Kraft beizumessen sei, wenn wir uns zu einer Zeit geneigter fühlen, uns mit den Göttern, zu einer andern mit den Tieren verwandt zu glauben; wenn uns zu einer Zeit alles sich in einem ernsthaften, und schwärzlichten, zu einer andern alles in einem fröhlichen Lichte darstellt; wenn wir izt kein wahres und gründliches Vergnügen kennen, als uns mit stolzer Verschmähung der irdischen Dinge in melancholische Betrachtungen ihres Nichts, in die unbekannten Gegenden jenseits des Grabes, und die grundlosen Tiefen der Ewigkeit hineinzusenken; ein andermal kein reizenderes Gemälde einer beneidenswürdigen Wonne, als den jungen Bacchus, wie er, sein Epheu- bekränztes Haupt in den Schoß der schönsten Nymphe zurückgelehnt, und mit dem einen Arm ihre blendenden Hüften umfassend, den andern nach der düftenden Trinkschale ausstreckt, die sie ihm lächelnd voll Nectars schenkt, von ihren eignen schönen Händen aus strotzenden Trauben frisch ausgepreßt; indes die Faunen und die fröhlichen Nymphen mit den Liebes-Göttern mutwillig um ihn her hüpfen, oder durch Rosengebüsche sich jagen, oder müde von ihren Scherzen, in stillen Grotten zu neuen Scherzen ausruhen. Der Schluß, den er aus allen diesen Betrachtungen, und einer Menge andrer, womit wir unsre Leser verschonen wollen, zog, war dieser: Daß die erhabnen Lehrsätze der Zoroastrischen und Orphischen Theosophie, wahrscheinlicher Weise (denn gewiß getraute er sich über diesen Punct noch nichts zu behaupten) nicht viel mehr Realität haben könnten, als die lachenden Bilder, unter welchen die Maler und Dichter die Wollüste der Sinnen vergöttert hatten; daß die ersten zwar der Tugend günstiger, und das Gemüte zu einer mehr als menschlichen Hoheit, Reinigkeit und Stärke zu erheben schienen, in der Tat aber der wahren Bestimmung des Menschen wohl eben so nachteilig sein durften, als die letztern; teils, weil es ein widersinniges und vergebliches Unternehmen scheine, sich besser machen zu wollen, als uns die Natur Laben will, oder auf Unkosten des halben Teils unsers Wesens nach einer Art von Vollkommenheit zu trachten, die mit der Anlage desselben im Widerspruch steht; teils weil solche Menschen, wenn es ihnen auch gelänge, sich selbst zu Halbgöttern und Intelligenzen umzuschaffen, eben dadurch zu jeder gewöhnlichen Bestimmung des geselligen Menschen desto untauglicher würden. Aus diesem Gesichtspunct deuchte ihn der Enthusiasmus des Theosophen zwar unschädlicher als das System des Wollüstlings; aber der menschlichen Gesellschaft eben so unnützlich: indem der erste sich dem gesellschaftlichen Leben entweder gänzlich entzieht (welches würklich das Beste ist, was er tun kann) oder wenn er von dem beschaulichen Leben ins würksame übergeht, durch Mangel an Kenntnis einer ihm ganz fremden Welt, durch abgezogene Begriffe, welche nirgends zu den Gegenständen, die er vor sich hat, passen wollen, durch übertrieben moralische Zärtlichkeit, und tausend andre Ursachen, die ihren Grund in seiner vormaligen Lebens-Art haben, andern wider seine Absicht öfters, sich selbst aber allezeit schädlich wird.
    In wie fern diese Sätze richtig seien, oder in besondern Fällen einige Ausnahmen zulassen, zu untersuchen, würde zu weit von unserm Vorhaben abführen, genug für uns, daß sie dem Agathon begründet genug schienen, um sich selbst desto leichter zu vergeben, daß er, wie der Homerische Ulyß in der Insel der Calypso, sich in dem bezauberten Grunde der Wollust hatte aufhalten lassen, sein erstes Vorhaben, die Schüler des Zoroasters und die Priester zu Sais zu besuchen, sobald als ihm Danae seine Freiheit wieder geschenkt hatte, ins Werk zu setzen. Kurz, seine Erfahrungen machten ihm die Wahrheit seiner ehemaligen Denkungs-Art verdächtig, ohne ihm einen gewissen geheimen Hang zu seinen alten Lieblings-Ideen benehmen zu können. Seine Vernunft konnte in diesem Stücke mit seinem Herzen und sein Herz mit sich selbst nicht recht einig werden; und er war nicht ruhig genug, oder vielleicht auch zu träge, seine nunmehrige Begriffe in ein System zu bringen, wodurch beide hätten befriedigt werden können. In der Tat ist ein Schiff eben nicht der bequemste Ort, ein solches Werk, wozu die Stille eines dunkeln Hains kaum stille genug ist, zu Stande zubringen; und Agathon mag daher zu entschuldigen sein, daß er diese Arbeit verschob, ob es gleich eine von denen ist, welche sich so wenig aufschieben lassen, als die Ausbesserung eines baufälligen Gebäudes, denn so wie dieses mit jedem Tage, um den seine Wiederherstellung aufgeschoben wird, dem gänzlichen Einsturz näher kommt; so pflegen auch die Lücken in unsern moralischen Begriffen und die Mißhelligkeiten zwischen dem Kopf und dem Herzen immer größer und gefährlicher zu werden, je länger wir es aufschieben sie mit der erforderlichen Aufmerksamkeit zu untersuchen, und eine richtige Verbindung und Harmonie zwischen den Teilen und dem Ganzen herzustellen.
    Doch dieser Aufschub war in dem besondern Falle, worin sich Agathon befand, desto weniger schädlich, da er, von der Schönheit der Tugend und der unauflöslichen Verbindlichkeit ihrer Gesetze mehr als jemals überzeugt, eine auf das wahre allgemeine Beste gerichtete Würksamkeit für die Bestimmung aller Menschen, oder wofern ja einige Ausnahme zu Gunsten der bloß contemplativen Geister zu machen wäre, doch gewiß für die seinige hielt. Vormals war er nur zufälliger Weise, und gegen seine Neigung in das active Leben verflochten worden: izo war es eine Folge seiner nunmehrigen, und wie er glaubte geläuterten Denkungs-Art, daß er sich dazu entschloß. Ein sanftes Entzücken, welches ihm in diesen Augenblicken den süßesten Berauschungen der Wollust unendlich vorzuziehen schien, ergoß sich durch sein ganzes Wesen bei dem Gedanken, der Mitarbeiter an der Wiedereinsetzung Siciliens in die unendlichen Vorteile der wahren Freiheit und einer durch weise Gesetze und Anstalten verewigten Verfassung zu sein – Seine immer verschönernde Phantasie malte ihm die Folgen seiner Bemühungen in tausend reizende Bilder von öffentlicher Glückseligkeit aus er fühlte mit Entzücken die Kräfte zu einer so edeln Arbeit in sich; und sein Vergnügen war desto vollkommener, da er zugleich empfand, daß Herrschsucht und eitle Ruhm-Begierde keinen Anteil daran hatten; daß es die tugendhafte Begierde, in einem weiten Umfang gutes zu tun, war, deren gehoffete Befriedigung ihm diesen Vorschmack des göttlichsten Vergnügens gab, dessen die menschliche Natur fähig ist. Seine Erfahrungen, so viel sie ihn auch gekostet hatten, schienen ihm izt nicht zu teuer erkauft, da er dadurch desto tüchtiger zu sein hoffte, die Klippen zu vermeiden, an denen die Klugheit oder die Tugend derjenigen zu scheitern pflegt, welche sich den öffentlichen Angelegenheiten unterziehen. Er setzte sich fest vor, sich durch keine zweite Danae mehr irre machen zu lassen. Er glaubte sich in diesem Stücke desto besser auf sich selbst verlassen zu können, da er stark genug gewesen war, sich von der ersten loszureißen, und es mit gutem Fug für unmöglich halten konnte, jemals auf eine noch gefährlichere Probe gesetzt zu werden. Ohne Ehrgeiz, ohne Habsucht, immer wachsam auf die schwache Seite seines Herzens, die er kennen gelernt hatte, dachte er nicht, daß er von andern Leidenschaften, welche vielleicht noch in seinem Busen schlummerten, etwas zu besorgen haben könne. Keine übelweissagende Besorgnisse störten ihn in dem unvermischten Genusse seiner Hoffnungen; sie beschäftigten ihn wachend und selbst in Träumen; sie waren der vornehmste Inhalt seiner Gespräche mit dem syracusischen Kaufmanne, sie machten ihm die Beschwerden der Reise unmerklich, und entschädigten ihn überflüssig für den Verlust der ehemals geliebten Danae; einen Verlust der mit jedem neuen Morgen kleiner in seinen Augen wurde; und so führten ihn günstige Winde und ein geschickter Steuermann nach einer kurzen Verweilung in einigen griechischen See-Städten, wo er sich nirgends zu erkennen gab, glücklich nach Syracus, um an dem Hof’ eines Fürsten zu lernen, daß auf dieser schlüpfrigen Höhe die Tugend entweder der Klugheit aufgeopfert werden muß, oder die behutsamste Klugheit nicht hinreichend ist, den Fall des Tugendhaften zu verhindern.

    Zehntes Buch

    Fünftes Kapitel

    Moralischer Zustand unsers Helden

    Der Autor der alten Handschrift, aus welcher wir den größesten Teil dieser Geschichte gezogen zu haben gestehen, triumphiert, wie man gesehen hat, darüber, daß er seinen Helden mit seiner ganzen Tugend von einem Hofe hinweggebracht habe. Es würde allerdings etwas sein, daß einem Wunder ganz nahe käme, wenn es sich würklich so verhielte; aber wir besorgen, daß er mehr gesagt habe, als er der Schärfe nach zu beweisen im Stande wäre. Wenn es nicht etwan moralische Amulete gibt, welche der ansteckenden Beschaffenheit der Hofluft auf eben die Art widerstehen, wie der Krötenstein dem Gift, so deucht uns ein wenig unbegreiflich, daß das Getümmel des beschäftigten Lebens, die schädlichen Dünste der Schmeichelei, welche ein Günstling, er wolle oder wolle nicht, unaufhörlich einsaugt – – die Notwendigkeit, von den Forderungen der Weisheit und Tugend immer etwas nachzulassen, um nicht alles zu verlieren – – und was noch schädlicher als dieses alles ist, die unzählichen Zerstreuungen, wodurch die Seele aus sich selbst herausgezogen wird, und über der Aufmerksamkeit auf eine Menge kleiner vorbeirauschender Gegenstände, die Aufmerksamkeit auf sich selbst verliert – – nicht einige nachteilige Einflüsse in den Character seines Geistes und Herzens gehabt haben sollten. Indessen müssen wir gestehen, daß es ihm hierin eben so erging, wie es, vermöge der täglichen Erfahrung, allen andern Sterblichen zu gehen pflegt. Er wurde diese eben so unmerkliche als unleugbare Einflüsse, und die Veränderungen, welche sie verstohlner Weise in seiner Seele verursacheten, eben so wenig gewahr, als ein gesunder Mensch die geheimen und schleichenden Zerrüttungen empfindet, welche die Unbeständigkeit der Witterung, die kleinen Unordnungen in der Lebensart, die heterogene Beschaffenheit der Nahrungr Leidenschaften, stündlich in seiner Maschine verursachen. Die Veränderungen, die in unsrer innerlichen Verfassung vorgehen, müssen beträchtlich sein, wenn sie in die Augen fallen sollen; und wir fangen gemeiniglich nicht eher an, sie deutlich wahrzunehmen, bis wir uns genötigt finden, zu stutzen, und uns selbst zu fragen, ob wir noch eben dieselbe Person seien, die wir waren? Aus diesem Grunde geschah es vermutlich, daß Agathon die Progressen, welche die schon zu Smyrna angefangene Revolution in seiner Seele während seinem Aufenthalt zu Syracus machte, ohne das mindeste Mißtrauen in sie zu setzen, ganz allein den neuen oder bestätigten Erfahrungen zuschrieb, welche er in dieser ausgebreiteten Sphäre zu machen, so viele Gelegenheiten hatte.
         Es ist unstreitig einer der größesten Vorteile, wo nicht der einzige, den ein denkender Mensch aus dem Leben in der großen Welt mit sich nimmt, wofern es ihm jemals so gut wird, sich wieder aus derselben herauswinden zu können – – daß er die Menschen darin kennen gelernt hat. Es läßt sich zwar gegen diese Art von Kenntnis der Menschen, aus guten Gründen eben so viel einwenden, als gegen diejenige, welche man aus der Geschichte, und den Schriften der Dichter, Sittenlehrer, Satyristen und Romanenmacher zieht – – oder gegen irgend eine andere: Aber man muß hingegen auch gestehen, daß sie wenigstens eben so zuverlässig ist, als irgend eine andre; ja daß sie es noch in einem höhern Grade ist, wenn anders das Subject, bei dem sie sich befindet, mit allen den Eigenschaften versehen ist, die zu einem Beobachter erfordert werden. Denn freilich kann nichts lächerlicher sein als ein Geck, der nachdem er zehn oder fünfzehn Jahre seine Figur durch alle Länder und Höfe der Welt herumgeführt, etliche Dutzend zweideutige Tugenden besiegt, und eben so viel schale Histörchen oder verdächtige Beiträge zur Chronique scandaleuse eines jeden Ortes, wo er gewesen ist, zusammengebracht hat, mit deren Hülfe er zween oder drei Tage eine Tischgesellschaft lachen oder gähnen machen kann – – sich selbst mit dem Besitz einer vollkommenen Kenntnis der Welt und der Menschen schmeichelt, und denjenigen mit dummem Hohnlächeln von der Seite ansieht, der vermöge einer vieljährigen tiefen Erforschung der menschlichen Natur, gelegenheitlich von Charactern und Sitten urteilt, ohne die sieben Türme gesehen, oder der Vermählung des Doge von Venedig mit dem adriatischen Meer beigewohnt zu haben. Wir wissen nicht, wie groß ungefähr die Anzahl der so genannten Welt-Leute sein mag, die in diese Classe gehören: Aber das scheint uns gewiß zu sein, daß ein Mann von Genie und aufgeklärtem Verstande (denn die bloße Empirie reicht hier so wenig zu, als in irgend einer andern practischen Wissenschaft) durch das Leben in der großen Welt, (in so fern wir dieses Wort in seiner echten Bedeutung nehmen) durch die Verhältnisse, worin er an einem beträchtlichen Platze mit allen Arten von Ständen und Charactern kömmt, durch die häufigen Gelegenheiten die er hat, diejenige so er beobachtet, unter allerlei Umständen, mit und ohne Maske zu sehen, sie auf allerlei Proben zu setzen, und so wohl durch den Gebrauch, den man von ihnen macht, als den sie von andern zu machen suchen, ihre herrschenden Neigungen und geheime Springfedern ausfündig zu machen – – daß er dadurch zu einer unmittelbarern, ausgebreitetern und richtigern Kenntnis der Menschen gelangt, als andre, welche ihre Theorie lediglich den Geschichtschreibern, Metaphysikern und Moralisten (drei sehr wenig zuverlässigen Gattungen von Lehrern) zu danken – – oder welche ihre Beobachtungen nur in dem Microcosmus ihres eigenen Selbst angestellt haben.
         Es ist oben schon bemerkt worden, daß Agathon bei seinem Auftritt auf dem Schauplatz, von dem er nun wieder abgetreten ist, lange nicht mehr so erhaben und idealisch von der menschlichen Natur dachte, als zu Delphi; denn es macht einen beträchtlichen Unterschied, ob man unter Bildsäulen von Göttern und Helden, oder unter Menschen lebt; aber nachdem er die Beobachtungen, die er zu Athen und Smyrna schon gesammelt, noch durch die nähere Bekanntschaft mit den Großen, und mit den Hofleuten bereichert hatte, sank seine Meinung von der angebornen Schönheit und Würde dieser menschlichen Natur, von Grade zu Grade so tief, daß er zuweilen in Versuchung geriet, gegen die Stimme seines Herzens (welche eben so wohl, dachte er, die Stimme der Eigenliebe oder des Vorurteilssein könnte,) alles was der göttliche Plato erhabenes und herrliches davon gesagt und geschrieben hatte, für Märchen aus einer andern Welt zu halten. Unvermerkt kamen ihm die Begriffe, welche sich Hippias davon machte, nicht mehr so ungeheuer vor, als damals, da er sich in den Garten dieses wollüstigen Weisen in den Mondschein hinsetzte, und Betrachtungen über den Zustand der entkörperten Geister anstellte. Endlich kam es gar so weit, daß ihm diese Begriffe wahrscheinlich genug deuchten, um sich vorstellen zu können, wie Leute, die in ihrem eigenen Herzen nichts fanden, das ihnen eine edlere Meinung von ihrer Natur zu geben geschickt wäre, durch einen langen Umgang mit der Welt dazu gelangen könnten, sich gänzlich von der Wahrheit desselben zu überreden.
         Soweit hätte Agathon gehen können, ohne die Grenzen der weisen Mäßigung zu überschreiten, welche uns in unsern Urteilen über diesen wichtigen Gegenstand, und alles was sich auf ihn bezieht, langsam und zurückhaltend machen sollen. Aber in Stunden, da der Unmut seine schönsten Hoffnungen durch die Torheit oder Bosheit derjenigen mit denen er leben mußte, vor seinen Augen vernichten zu sehen, eine mehr als gewöhnliche Verdüsterung in seiner Seele verursachte, ging er noch um einen Schritt weiter. Nein, sagte er dann zu sich selbst, die Menschen sind nicht wofür ich sie hielt, da ich sie nach mir selbst, und mich selbst nach den jugendlichen Empfindungen eines gefühlvollen Herzens, und nach einer noch ungeprüften Unschuld beurteilte. Meine Erfahrungen rechtfertigen das Schlimmste, was Hippias von ihnen sagte; und wenn sie nichts bessers sind, was für Ursache habe ich, mich darüber zu beschweren, daß sie sich nicht nach Grundsätzen behandeln lassen, die in keinem Ebenmaß mit ihrer Natur stehen? An mir war der Fehler, an mir, der einen Mercur aus einem knotichten Feigenstock schnitzeln wollte. Sagte er mir nicht vorher, daß ich nichts anders zu gewarten hätte, wenn ich den Plan meines Lebens nach meinen Ideen einrichten würde. Seine Vorhersagung hätte nicht richtiger eintreffen können. Hätte ich seinen Grundsätzen gefolgt, hätte ich mich ehmals zu Athen, oder hier zu Syracus so betragen, wie Hippias an meinem Platze getan haben würde – so würde ich meine Absichten ausgeführt haben; so würde ich glücklich gewesen sein – – und der Himmel weiß, ob es den Sicilianern desto schlimmer ergangen wäre. Dieses ist nun das zweite mal, daß Philistus, ein echter Anhänger des Systems meines Sophisten, ob er gleich nicht fähig wäre es so zusammenhängend und scheinbar vorzutragen, über Weisheit und Tugend den Sieg davon getragen hat. – – Und habe ich noch der Erfahrung vonnöten, um zu wissen, daß er eben so gewiß über einen andern Plato, und über einen andern Agathon siegen würde? – – Wieviel ließ ich von meinen Grundsätzen nach, wie tief stimmte ich mich selbst herab, da ich die Unmöglichkeit sah, diejenigen mit denen ich’s zu tun hatte, so weit zu mir heraufzuziehen? Wozu half es mir? – – ich konnte mich nicht entschließen niederträchtig zu handeln, ein Schmeichler, ein Kuppler, ein Verräter an dem wahren Interesse des Fürsten und des Landes zu werden – – und so verlor’ ich die Gunst des Fürsten, und die einzige Belohnung, die ich für meine Arbeiten verlange, die Vorteile, welche dieses Land von meiner Verwaltung zu genießen anfing, auf einmal, weil ich mich nicht dazu bequemen konnte, alles für anständig und recht zu halten, was nützlich ist – – O! gewiß Hippias, deine Begriffe und Maximen, deine Moral, deine Staatskunst, gründen sich auf die Erfahrung aller Zeiten. Wenn sind die Menschen jemals anders gewesen? Wenn haben sie jemals die Tugend hochgeschätzt, als wenn sie ihrer Dienste benötigt waren; und wenn ist sie ihnen nicht verhaßt gewesen, so bald sie ihren Leidenschaften im Lichte stund?
         Diese Betrachtungen führten unsern Helden bis an die äußerste Spitze des tiefen Abgrunds, der zwischen dem System der Tugend, und dem System des Hippias liegt; aber der erste schüchterne Blick, den er hinunter wagte, war genug, ihn mit Entsetzen zurückfahren zu machen. Die Begriffe des wesentlichen Unterschieds zwischen Recht und Unrecht, und die Ideen des sittlichen Schönen, hatten zu tiefe Wurzeln in seiner Seele gefaßt, waren zu genau mit den zartesten Fibern derselben verflochten und zusammengewachsen, als daß es möglich gewesen wäre, daß irgend eine zufällige Ursache, so stark sie immer auf seine Einbildung und auf seine Leidenschaften würken mochte, sie hätte ausreuten können. Die Tugend hatte bei ihm keinen anderen Sachwalter nötig als sein eignes Herz. In eben dem Augenblick, da eine nur allzugegründete Misanthropie ihm die Menschen in einem verächtlichen Lichte, und vielleicht wie gewisse Spiegel, um ein gutes Teil häßlicher zeigte, als sie würklich sind, fühlte er mit der vollkommensten Gewißheit, daß er, um die Crone des Monarchen von Persien selbst, weder Hippias noch Philistus sein wollte; und daß er, sobald er sich wieder in die nämliche Umstände gesetzt sähe, eben so handeln würde, wie er gehandelt hatte, ohne sich durch irgend eine Folge davon erschrecken zu lassen. Hingegen konnte es nicht wohl anders sein, als daß diese Betrachtungen, denen er sich seit seinem Fall, und sonderheitlich während seiner Gefangenschaft, fast gänzlich überließ, den Überrest des moralischen Enthusiasmus, von dem wir ihn bei seiner Flucht aus Smyrna erhitzt gesehen haben, vollends verzehren mußten. Der Gedanke für das Glück der Menschen, für das allgemeine Beste der ganzen Gattung zu arbeiten, verliert seinen mächtigen Reiz, sobald wir klein von dieser Gattung denken. Die Größe dieses Vorhabens ist es eigentlich, was den Reiz derselben ausmacht – – und diese schrumpft natürlicher Weise sehr zusammen, sobald wir uns die Menschen als eine Herde von Creaturen vorstellen, deren größester Teil seine ganze Glückseligkeit, den letzten Endzweck aller seiner Bemühungen auf seine körperliche Bedürfnisse einschränkt, und dabei dumm genug ist, durch eine niederträchtige Unterwürfigkeit unter eine kleine Anzahl der schlimmsten seiner Gattung, sich fast immer in den Fall zu setzen, auch dieser bloß tierischen Glückseligkeit nur selten oder auf kurze Zeit, bittweise oder verstohlner Weise habhaft zu werden. Jedes Tier sucht seine Nahrung – – gräbt sich eine Höhle, oder baut sich ein Nest – – begattet sich – – schläft – – und stirbt. Was tut der größeste Teil der Menschen mehr? Das beträchtlichste Geschäfte, das sie von den übrigen Tieren voraus haben, ist die Sorge sich bekleiden, welche die hauptsächlichste Beschäftigung vieler Millionen ausmacht. Und ich sollte, (sagte Agathon in einer von seinen schlimmsten Launen zu sich selbst) ich sollte meine Ruhe, meine Vergnügungen, meine Kräfte, mein Dasein der Sorge aufopfern, damit irgend eine besondere Herde dieser edeln Creaturen besser esse, schöner wohne, sich häufiger begatte, sich besser kleide, und weicher schlafe als sie zuvor taten, oder als andere ihrer Gattung tun? – – Ist das nicht alles was sie wünschen? Und gebrauchen sie mich dazu? Was sollte mich bewegen, mir diese Verdienste um sie zu machen? Ist vielleicht nur ein einziger unter ihnen, der bei allem was er unternimmt, eine edlere Absicht hat, als seine eigne Befriedigung? Bin ich ihnen etwan einige Hochachtung oder Dankbarkeit dafür schuldig, daß sie für meine Bedürfnisse oder für mein Vergnügen arbeiten? Ich bin schuldig, sie dafür zu bezahlen; das ist alles was sie wollen, und alles was sie an mich fordern können.
         Himmel! – – so deucht mich, höre ich hier einige rührende Stimmen ausrufen – – ist’s möglich? Konnte Agathon so denken? So klein, so unedel – – So kalt, meine schönen Damen, so kalt! Und sie werden mir gestehen, daß man in einer Einkerkerung von zween oder drei Monaten, die man sich ganz allein durch große und edle Gesinnungen zugezogen, gute Gelegenheit hat, sich von der Hitze der großmütigen Schwärmerei ein wenig abzukühlen – – Aber was wird nun aus der Tugend unsers Helden werden? – – Was ist die Tugend ohne dieses schöne Feuer, ohne diese erhabene Begeisterung, welche den Menschen über die übrigen seiner Gattung, welche ihn über sich selbst erhöht, und zu einem allgemeinen Wohltäter, zu einem Genius, zu einer subalternen Gottheit macht? – – Wir gestehen es, sie ist ohne diese ätherische Flamme ein sehr unansehnliches, sehr wenig glänzendes Ding – – »Und wie traurig ist es, die Tugend unsers Helden gerade da unterliegen zu sehen, wo sie sich in ihrer größesten Stärke zeigen sollte? – – Wie? – – erliegen, weil man Widerstand findet? Die gute Sache aufgeben, weil man, und vielleicht ohne Not, an einem glücklichen Ausgang verzweifelt? Was ist denn die wahre Tugend anders, als ein immerwährender Streit mit den Leidenschaften, Torheiten und Lastern – – in uns, und außer uns?« – – Vortrefflich! – – und in Bunyans Reise so wohl ausgeführt, meine Herren, daß ihr uns hier weiter nichts zu sagen braucht. Es ist bedaurlich, daß unser Held seine Rolle nicht besser behauptet – – Aber allem Ansehen nach, war er wohl niemals ein Held – – und wir hatten Unrecht ihm einen so ehrenvollen Namen beizulegen – – »Das eben nicht; er fing vortrefflich an; er war ein Held, da er sich den zudringlichen Liebkosungen der verführischen Pythia entriß« – – Das konnte die scheue und schamhafte Unschuld der unbärtigen Jugend getan haben; und liebte er damals nicht die schöne Psyche? – – »So verdiente er doch ein Held genennt zu werden, als er den Mut hatte, sich eines verlassenen Unschuldigen gegen eine mächtige Partei anzunehmen?« – – Ihr könntet vielleicht eben soviel aus Ehrgeiz – – oder aus Haß gegen einen der Feinde eures Clienten– – oder aus einer geheimen Absicht auf die Gemahlin eures Clienten – – oder um vierzig tausend Livres aus der Casse eures Clienten tun? – – und ihr hättet in keinem von diesen Fällen eine Heldentat getan. Daß Agathon damals aus edeln Gesinnungen handelte, wissen wir – – von ihm selbst; und wir haben Gründe, es ihm zu glauben – – aber er konnte sich mit der größesten Wahrscheinlichkeit einen glänzenden Succeß versprechen; und was für ein Triumph war das für die Ruhmbegierde eines Jünglings von zwanzig Jahren? – »Nun, so war er doch gewiß ein Held, da er gleichmütig und unerschütterlich sich dem ungerechten Verbannungs-Urteil der Athenienser unterzog, und lieber das äußerste erdulden, als seine Lossprechung einer Niederträchtigkeit zu danken haben wollte! – – So war er’s damals, da er von sich sagen konnte: Ich verwies es der Tugend nicht, daß sie mir den Haß und die Verfolgungen der Bösen zugezogen hatte; ich fühlte, daß sie sich selbst belohnt.« – – In der Tat, er war in diesem Augenblick groß; aber wir müssen nicht vergessen, daß er sich damals in einem außerordentlichen Zustande, auf dem äußersten Grade dieses Enthusiasmus der Tugend befand, der den Menschen vergessen macht, daß er nur ein Mensch ist. Diese Art von Heldentum daurt natürlicher Weise nicht länger, als der Paroxysmus des Affects. Agathon war sich damals, als er so dachte, einer unbefleckten Tugend bewußt; und zu was für einem Stolz mußte dieses Gefühl seine Seele in einem Augenblick aufschwellen, da sich ganz Athen zusammenverschworen zu haben schien, ihn zu demütigen; in einem Augenblick, da dieser Stolz der ganzen Last seines Unglücks das Gleichgewicht halten mußte, und ihm den Triumph verschaffte, die Herren über sein Schicksal die ganze Obermacht, die ihm seine Tugend über sie gab, fühlen zu lassen? Diese Art von Stolz gleicht in ihren Würkungen der Wut eines tapfern Mannes der zur Verzweiflung getrieben wird. Die Gewißheit des Todes; in den er sich hineinstürzt, macht, daß er Taten eines Unsterblichen tut. Aber Agathon hatte dermalen nicht mehr soviel Ursache, auf seine Tugend stolz zu sein. Eben diese enthusiastische Gemüts-Beschaffenheit, welche ihm bei seiner Verbannung zu Athen die Gesinnungen eines Gottes eingehaucht, hatte ihn zu Smyrna den Schwachheiten eines gemeinen Menschen ausgesetzt. Er dachte nicht mehr so groß von sich selbst, und da ihm nun, in ähnlichen Umständen, dieser heroische Stolz nicht mehr zu statten kommen konnte, so mußte sich derselbe notwendig in diejenige Art von Misanthropie verwandeln, welche sich über die ganze Gattung erstreckt. In diesem Stücke, wie in vielen andern, ist die Geschichte Agathons die Geschichte aller Menschen. Wir denken so lange groß von der menschlichen Natur, als wir groß von uns selber denken; unsere Verachtung hat alsdann nur einzelne Menschen oder kleinere Gesellschaften zum Gegenstand. Aber sobald wir in unsrer Meinung von uns selbst fallen, sinkt durch eine innerliche Gewalt über welche wir nicht Meister sind, unsre Meinung von der ganzen Gattung zu welcher wir gehören; wir verwundern uns, daß wir nicht eher wahrgenommen, daß die Torheiten, die Laster derjenigen, unter denen wir leben, Gebrechen der Natur selbst sind, denen (mehr oder weniger, auf diese oder eine andre Art, je nachdem Zeit, Umstände, Temperament und Gewohnheit es mit sich bringen) ein jeder unterworfen ist; je genauer wir die Menschen untersuchen, je mehr Gründe finden wir, so zu denken; und diese Denkungsart flößet uns, zu eben der Zeit, da sie uns eine gewisse Geringschätzung gegen die ganze Gattung gibt, mehr Nachsicht gegen die Fehler und Gebrechen der einzelnen Personen, und besondern Gesellschaften, mit denen wir in Verhältnis stehen, ein; so daß wir das, was wir an jenem tugendhaften Schwulst, welchen die Einfalt übereilter Weise für die Tugend selbst hält, verlieren, zu eben der Zeit an den notwendigsten und liebenswürdigsten Tugenden, an Geselligkeit und Mäßigung gewinnen: Tugenden, welche zwar nichts blendendes haben, aber desto mehr Wärme geben, und uns desto geschickter machen, unter Geschöpfen zu leben, welche ihrer alle Augenblicke benötiget sind.
         Es ist ein gemeiner und oft getadelter Fehler des menschlichen Geschlechts, daß sie das Wunderbare mehr lieben als das Natürliche, und das Glänzende mehr als was nicht so gut in die Augen fällt, wenn es gleich brauchbarer und dauerhafter ist. Diese Art von dem Werte der Sachen zu urteilen ist nirgends betrüglicher, als wenn sie auf moralische Gegenstände angewendet wird. Der Schluß, den man öfters von der Erhabenheit der Begriffe und Empfindungen einer Person, und von der Fertigkeit eine gewisse Sprache der Begeistrung zu reden, welche (wie die homerische Göttersprache) allen Dingen andre Namen gibt, ohne daß die Dinge selbst darum etwas anders sind, als sie unter ihren gewöhnlichen Namen sind, auf eine außerordentliche Vortrefflichkeit des Characters dieser Person zu machen pflegt, ist eben so falsch, als das Vorurteil, welches viele gegen eine gelassene und bescheidene Tugend gefaßt haben, welche, ohne sich durch feirliches Gepränge, hochfliegende Ideen, anmaßliche Privilegien von den Gebrechen der menschlichen Natur, und unerbittliche Strenge gegen dieselben anzukündigen, nur darum weniger zu versprechen scheint, um im Werke selbst desto mehr zu leisten. Dieses vorausgesetzt könnten wir vielleicht mit gutem Grunde behaupten, daß die Tugend unsers Helden, durch die neuerliche Veränderung, die in seiner Denkensart vorging, in verschiedenen Betrachtungen, große Vorteile erhalten habe. Aber (wir wollen es nur gestehen) was sie dabei auf einer Seite gewann, verlor sie auf einer andern wieder. Die Begriffe, welche wir uns von unsrer eignen Natur machen, haben einen entscheidenden Einfluß auf alle unsre übrigen Begriffe. So irrig, so lächerlich und kindisch es ist, wenn wir uns einbilden (und doch bilden sich das die Meisten ein) daß der Mensch die Hauptfigur in der ganzen Schöpfung, und alles andere bloß um seinetwillen da sei – – So natürlich ist hingegen, daß er es in dem besondern System seiner eignen Ideen ist. In dieser kleinen Welt ist und bleibt er, er wolle oder wolle nicht, der Mittelpunct – der Held des Stücks, auf den alles sich bezieht, und dessen Glück oder Fall alles entscheidet. Alles ist groß, wichtig, interessant, wenn die Hauptperson wichtig ist, und eine große Rolle zu spielen hat; aber wenn Scapin oder Harlekin der Held ist, was kann das ganze Stück anders sein, als eine Farce?
         Man erinnert sich vermutlich noch der Zweifel, worin sich Agathon verwickelt fand, als er die bezauberten Ufer von Jonien verließ, wo er, vielleicht zu seinem Vorteil, erfahren hatte, daß die Ideen, welche sich in den Hainen zu Delphi seiner jugendlichen Seele bemächtiget, und durch den Unterricht und Umgang des göttlichen Platons zu Athen noch mehr darin befestiget hatten, ihm bei einer Gelegenheit, wo er sich mit vollkommner Sicherheit auf ihre Stärke und beschützende Kraft verlassen hatte, mehr nachteilig als nützlich gewesen waren, ja sich endlich (zu einem billigen Verdacht gegen ihre Realität) von ganz entgegengesetzten so unmerklich und gutwillig hatten verdrängen lassen, daß er die Veränderung nicht eher wahrgenommen, als da sie schon völlig zu Stande gekommen war. Agathon hatte damals keine Zeit, dieser Zweifel wegen mit sich selbst einig zu werden; er glaubte zwar, oder hoffte vielmehr überhaupt, daß dasjenige was in seinen vormaligen Grundsätzen wahres sei, sich mit seinen neuerlangten Begriffen sehr wohl vereinigen lassen werde – – aber er sah doch noch nicht deutlich genug, wie? – und wurde beim ersten Anblick Lücken gewahr, welche ihm desto mehr Sorge machten, je weniger er geneigt war, sie nach dem Exempel der Meisten, die sich in dieser Schwierigkeit befinden, mit dem ersten Besten, es möchte Stroh, Leimen, Lumpen oder was ihm sonst in die Hände fiele, sein, auszustopfen. Indes hatten doch damals seine vorigen Lieblings-Ideen noch einen starken Anhang in seinem Herzen, und er beruhigte sich, auf die Eingebungen desselben hin, mit der Hoffnung, daß es ihm, sobald er in ruhigere Umstände käme, leicht sein würde, die Harmonie zwischen seinem Kopf und seinem Herzen vollkommen wieder herzustellen. Allein die Geschäfte und die Zerstreuungen, welche zu Syracus alle seine Zeit verschlangen, hatten ihn genötigt, eine für ihn so wichtige Arbeit lange genug aufzuschieben, um sie durch immer neu hervorbrechende Schwierigkeiten ungleich schwerer zu machen, als sie anfangs gewesen wäre. Die umgereimte und lächerliche Seite der menschlichen Meinungen, Leidenschaften, und Gewohnheiten ist gemeiniglich die erste, welche sie einem Manne von Verstand und Witz zeigen, der die Muße nicht hat, sie mit anhaltender Aufmerksamkeit zu betrachten. Agathon gewöhnte sich also unvermerkt an diese Art, die Sachen anzuschauen; die natürliche Heiterkeit und Lebhaftigkeit seiner Sinnesart disponierte ihn ohnehin dazu; und die Syracusaner, deren Character eine Vermischung des Atheniensischen und Corinthischen, oder eine Composition von den widersprechendesten Eigenschaften, welche ein Volk nur immer haben kann, ausmachte – – und ein Hof, wie Dionysens Hof war – – versahen ihn so reichlich mit comischen Charactern, Bildern und Begebenheiten, daß der Absatz, welchen der gegenwärtige Ton seiner Seele (wenn man uns dieses malerische Kunst-Wort hier erlauben will) mit seinem ehmaligen machte, von Tag zu Tag immer stärker werden mußte. Der Oromasdes und Arimanius der alten Persen werden uns nicht als tödlichere Feinde vorgestellt, als es der comische Geist, und der Geist des Enthusiasmus sind; und die natürliche Antipathie dieser beiden Geister wird dadurch nicht wenig vermehrt, daß beide gleich geneigt sind, über die Grenzen der Mäßigung hinauszuschweifen. Der Enthusiastische Geist sieht alles in einem strengen feierlichen Licht; der Comische alles in einem milden und lachenden; nichts ist dem ersten leichter als so weit zugehen, bis ihm alles, was Spiel und Scherz heißt, verdammlich vorkommt; nichts dem andern leichter, als gerade in demjenigen, was jener mit der größesten Ernsthaftigkeit behandelt, am meisten Stoff zum Scherzen und Lachen zu finden.
         Nehmen wir zu diesem noch, daß der leichtsinnige und scherzhafte Ton von jeher den Höfen vorzüglich eigen gewesen ist – und den besondern Umstand, daß die anmaßlichen Academisten, oder Hof-Philosophen des Dionys, den einzigen Aristipp ausgenommen, eine Art von Tragi-comischen Narren vorstellten, welche recht mit Fleiß dazu ausgesucht zu sein schienen, um die erhabenen Wissenschaften, für deren Priester und Mystagogen sie sich ausgaben, so verächtlich zu machen, als sie selbst waren – – Nehmen wir alles dieses zusammen, so werden wir uns kaum verwundern können, wie es möglich gewesen, daß unser Held nach und nach sich endlich auf einem Punct befand, wo ihn damals, da er in der Grotte der Nymphen auf Erscheinungen der Götter wartete – – oder da er die Grundsätze, die Verheißungen und die Freundschaft des Sophisten Hippias mit einem so feurigen Unwillen von sich stieß – – vermutlich niemand, oder nur die schlauesten Kenner des menschlichen Herzens erwartet haben mögen – – nämlich da, wo ihm ein großer Teil seiner vormaligen Ideen, an denen er zu Smyrna nur zu zweifeln angefangen hatte, nun selbsten ganz schimärisch und belachenswert, und diejenigen, deren Gegenstände ihm zwar ehrwürdig bleiben mußten, doch subjectivisch betrachtet, in der barokischen Gestalt, wie sie in der Einbildung der Sterblichen verkleinert, verzerrt, vermischt oder verkleidet werden, zu nichts anderm zu taugen schienen, als lustig damit zu machen.
         Unsere nachdenkenden Leser werden nunmehr ganz deutlich begreifen, warum wir Bedenken getragen haben, dem Urheber der Griechischen Handschrift in seinem allzugünstigen Urteil von dem gegenwärtigen moralischen Zustande unsers Helden, Beifall zu geben. Wir können uns nicht verbergen, daß dieser Zustand für seine Tugend gefährlich ist, und desto gefährlicher, je mehr man in demselben durch eine gewisse Behaglichkeit, Munterkeit des Geistes, und andre Anscheinungen einer völligen Gesundheit, sicher gemacht zu werden pflegt, sich in seinem natürlichen Zustande zu glauben. Nicht als ob es uns eben so leid sei, unsern Helden (den wir mit allen seinen Fehlern eben so sehr lieben, als ob er ein Sir Carl Grandison wäre) auf dem Wege zu sehen, von allen Arten der Schwärmerei von Grund aus geheilt zu werden – – Denn so viel schönes und gutes sich immer zu ihrem Vorteil sagen lassen mag, so bleibt doch gewiß, daß es besser ist gesund sein, und keine Entzückungen haben, als die Harmonie der Sphären hören, und an einem hitzigen Fieber liegen – aber wir besorgen billig, daß die allzustarke Nachlassung, welche in der Seele eben sowohl als im Leibe, auf eine übermäßige Spannung zu folgen pflegt, seinem Herzen wenigstens so nachteilig werden könnte, als es die liebenswürdige Schwärmerei, womit wir ihn behaftet gesehen haben, seiner Vernunft sein mochte. Der neue Schwung, den seine Denkungsart zu Syracus bekam, würde uns ziemlich gleichgültig sein, wenn die Veränderung sich bloß auf speculative Begriffe oder den Ton und die Verteilung des Lichts und Schattens in seiner Seele erstreckte: Aber wenn er dadurch weniger rechtschaffen, weniger ein Liebhaber der Wahrheit, weniger empfindlich für das Beste des menschlichen Geschlechts, weniger edelgesinnt, und wohltätig, weniger zur vorzüglichen Teilnehmung an der Glückseligkeit irgend einer besondern Gesellschaft (ohne welche die anmaßliche Welt-Bürgerschaft gewisser Leute bloße Großsprecherei oder höchstens eine Art von Don-Quischotterie ist) und zur Freundschaft, diesem Lieblings- Phantom schöner Seelen, weniger aufgelegt würde – – erlaubet mir, ihr strengen Anti-Platonisten, denen alles Schimäre heißt, was sich nicht geometrisch beweisen läßt, erlaubet mir noch weiter zu gehen – – wenn dieser schöne, herzerhöhende, wohltätige, und der Tugend so vorteilhafte Gedanke – – für eine größere Sphäre als dieses animalische Leben, für eine edlere Art von Existenz, für vollkommnere Gegenstände, und zu einer vollkommnern Art von Activität, als unsre dermalige bestimmt zu sein – – und die begeisternden, wiewohl träumerischen Aussichten, die uns dieser Beste aller Gedanken gibt – – wenn er keinen Reiz, keine Macht auf seine Seele mehr hätte – – O! Agathon, Agathon! dann würdest du, nicht unsern Haß, nicht eine lieblose Beurteilung, nicht eine triumphierende Freude über deinen Fall, aber – – unser Mitleiden verdienen.
         Die Gemüts-Verfassung worin wir ihn in diesem Capitel gesehen haben, scheint allerdings nicht sehr geschickt zu sein, uns über diesen Punct seinetwegen außer Sorgen zu setzen. Es ist eine so unbeständige Sache um die Begriffe, Meinungen und Urteile eines Menschen! Die Umstände, der besondere Gesichts- Punct, in den sie uns stellen, die Gesellschaft worin wir leben, tausend kleine Einflüsse, die wir einzeln nicht gewahr werden, haben soviel Gewalt über dieses unerklärbare, launische, widersinnische Ding, unsre Seele! – – daß wir nicht Bürge dafür sein wollten, was aus unserm Helden hätte werden können, wofern er mit solchen Dispositionen in eine Gesellschaft von Hippiassen und Alcibiaden, oder zurück in die schöne Welt zu Smyrna versetzt worden wäre. Zu gutem Glück sehen wir ihn im Begriff, zu Leuten zukommen, welche ihn mit der Menschheit wieder aussöhnen, und seinem schon erkaltenden Herzen diese beseelende Wärme wieder mitteilen werden, ohne welche die Tugend eine bloße Speculation ist, die zwar einen unerschöpflichen Stoff zu scharfsinnigen Betrachtungen gibt, aber unter den vielerlei chymischen Processen, welche die allzuspitzfündige Vernunft mit ihr vornimmt, endlich ein so abgezogenes, so feines, so delicates Ding wird, daß sich kein Gebrauch davon machen läßt.
         So sehr sich auch die Einbildungs-Kraft unsers Helden abgekühlt hat, so unzuverlässig, übertrieben und grillenhaft er die Geister-Lehre und die metaphysische Politik seines Freundes Plato zu finden glaubt; so comisch ihm seine eigene Ausschweifungen in dem Stande der Bezauberung, worin er sich ehemals befunden, vorkommen; so klein er überhaupt von den Menschen denkt, und so fest er entschlossen zu sein vermeint, von dem schönen Phantom, wie er es izo nennt, von dem Gedanken, sich Verdienste um seine Gattung zu machen, in seinem Leben sich nicht wieder täuschen zu lassen; so ist es doch bei weitem noch nicht an dem, daß er diese zarte Empfindlichkeit der Seele, und diesen eingewurzelten Hang zu dem idealischen Schönen verloren haben sollte, der das geheime Principium seiner ehemaligen Begeisterung, und aller der manchfaltigen Schwärmereien, Bezauberungen und Entzückungen, in deren magischem Labyrinthe sie ihn, nach Maßgabe der Umstände, herumgeführt, gewesen ist. Die verstohlnen Blicke, die er noch so gerne in die Scenen seiner glücklichen Jugend wirft; das Bild der liebenswürdigen Psyche, welches durch alle Veränderungen, die in seiner Seele vorgegangen, nichts von seinem Glanze verloren hat; die Erinnerung dieser reinen, unbeschreiblichen, fast vergötternden Wollust, in welcher sein Herz zerfloß, als er es noch in seiner Gewalt hatte, Glückliche zu machen; und als die Reinigkeit dieser göttlichen Lust noch durch keine Erfahrungen von der Undankbarkeit und Bosheit der Menschen verdüstert und trübe gemacht wurde – – diese Bilder, denen er sich noch so gerne überläßt – welche sich selbst in seinen Träumen seiner gerührten Seele so oft und so lebhaft darstellen – – die Seufzer, die Wünsche, die er diesen geliebten verschwindenden Schatten nachschickt – – alle diese Symptomen sind uns Bürge dafür, daß er noch Agathon ist; daß die Veränderung in seinen Begriffen und Urteilen, die neue Theorie von allem dem, was würklich ein Gegenstand unsrer Nachforschung zu sein verdient, oder von Eitelkeit und Vorwitz dazu gemacht worden, welche sich in seiner Seele zu entwickeln angefangen, die edlern Teile seines Herzens nicht angegriffen habe; kurz, daß wir uns Hoffnung machen können, aus dem Streit der beiden widerwärtigen und feindlichen Geister, wodurch seine ganze innerliche Verfassung seit einiger Zeit erschüttert, verwirrt und in Gärung gesetzt worden, zuletzt eine eben so schöne Harmonie von Weisheit und Tugend hervorkommen zu sehen, wie nach dem System der alten Morgenländischen Weisen, aus dem Streit der Finsternis und des Lichts, diese schöne Welt hervorgegangen sein soll.

    Elftes Buch

    Erstes Kapitel

    Apologie des griechischen Autors

    Bis hieher scheint die Geschichte unsers Helden, wenigstens in den hauptsächlichsten Stücken, dem ordentlichen Lauf der Natur, und den strengesten Gesetzen der Wahrscheinlichkeit so gemäß zu sein, daß wir keinen Grund sehen, an der Wahrheit derselben zu zweifeln. Aber in diesem eilften Buch, wir müssen es gestehen, scheint der Autor aus dieser unsrer Welt, welche, unparteiisch von der Sache reden, zu allen Zeiten nichts bessers als eine Werkel-Tags-Welt (wie Shakespear sie irgendwo nennt) gewesen ist, ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken verirret zu sein. Es stehet bei den Lesern, ihm hierin soviel Glauben beizumessen, als sie gerne wollen; wir an unserm Teil nehmen uns der Sache weiter nichts an; unsere Absichten sind bereits erreicht, und die glücklichen oder unglücklichen Umstände, welche dem Agathon noch bevorstehen mögen, haben nichts damit zu tun. Indessen glauben wir doch, daß der Autor allen den gutherzigen Leuten, welche sich für den Helden einer solchen Geschichte nach und nach interessieren, und gerne haben, wenn sich am Ende alles zu allerseitigem Vergnügen, mit Entdeckungen, Erkennungen, glücklichem Wiederfinden der verlornen Freunde, und etlichen Hochzeiten endet, einen Gefallen getan habe, seinen Helden, nachdem er eine hinlängliche Anzahl guter und schlimmer Abenteuer bestanden hat, endlich für seine ganze übrige Lebens-Zeit glücklich zu machen. Es mag sein, daß der Verfasser der griechischen Handschrift hierin seinem guten Naturell den Lauf gelassen hat; denn in der Tat, scheint es ein Zeichen eines harten und grausamen Herzens zu sein, welches ein Vergnügen an der Qual und den Tränen seiner unschuldigen Leser findet, wenn man alles anwendet, uns für den Helden und die Heldin einer wundervollen Geschichte einzunehmen, bloß um uns zuletzt durch einen so jämmerlichen Ausgang, als eine schwermütige, menschenfeindliche Imagination nur immer erdenken kann, in einen desto empfindlichern und unleidlichern Schmerz zu versenken, da es lediglich bei dem guten Willen des Autors stund, uns desselben zu überheben. Gleichwohl aber scheint uns unser edler gesinnte Verfasser noch eine andre Absicht dabei gehabt zu haben, welche er, ohne sich einer noch größern Unwahrscheinlichkeit schuldig zu machen, nicht wohl anders als durch diese nicht allzuwahrscheinliche Verbindung glücklicher Umstände, worein er seinen Helden in diesem Buche setzt, erreichen konnte – – Und was für eine Absicht mag das wohl sein? – – Ich will es ihnen unverblümt und ohne Umschweife sagen, meine Herren und Damen, ob ich gleich besorgen muß, daß die ungewöhnliche Offenherzigkeit, welche ich ihnen in dem ganzen Laufe dieses Werkes habe sehen lassen, mir von einem oder dem andern aus ihrem Mittel übel aufgenommen werden möchte – – Unser Verfasser wollte dem Vorwurf ausweichen, welchen Horaz gleichnisweise in dem bekannten Verse – –

    Amphora coepit
    Institui – – currente rota cur urceus exit? – –

    denjenigen Dichtern macht, in deren Werken das Ende sich nicht zu dem Anfang schickt. Er wollte in seinem Helden, dessen Jugend und erste Auftritte in der Welt so große Hoffnungen erweckt hatten, nachdem er ihn durch so viele verschiedene Umstände geführt, als er für nötig hielt seine Tugend zu prüfen, zu läutern und zu der gehörigen Consistenz zu bringen, am Ende einen so weisen und tugendhaften Mann darstellen, als man nur immer unter der Sonne zu sehen wünschen, oder nach Gestalt der Sachen, erwarten könnte. Der Enthusiasmus, der die eigentliche Anlage seines Helden zu einem mehr als gewöhnlichen Grade moralischer Vollkommenheit enthielt, verhinderte ihn zu eben der Zeit da er seine Tugend erhöhte, so weise zu sein, als man sein muß, um nicht mit den erhabensten Begriffen, und den edelsten Gesinnungen, von sich selbst und von andern betrogen zu werden. Eine Art zu denken, welche ihn zu einer höhern Classe von Wesen als die gewöhnlichen Menschen sind, zu erheben schien, setzte ihn dem Neid, der verkehrten Beurteilung, den Nachstellungen und Verfolgungen dieser Menschen aus; und machte ihn, welches für seine Tugend das Schlimmste war, unvermerkt vergessen, daß er im Grunde doch immer weder mehr noch weniger sei, als ein Mensch. Die Erfahrungen, die er endlich hierüber bekam, öffneten ihm die Augen, und zerstreuten einen Teil der Bezauberung; er lernte sich selbst besser kennen; aber er kannte die Welt noch nicht genug. Ein neues und großes Theater, auf welches er versetzt wurde, half diesem Mangel ab; eine immer weiter ausgebreitete und vervielfältigte Erfahrung stimmte seine allzuidealische Denk-Art herab, und überführte ihn, daß er, wie der großmütige, tugendhafte und tapfre Ritter von Mancha (dieses lehrreiche Bild der Schwachheiten und Verirrungen des menschlichen Geistes !) Windmühlen für Riesen, Wirtshäuser für bezauberte Schlösser, und Dorf-Nymphen für göttliche Dulcineen angesehen hatte. Er wurde weiser, aber auf Unkosten seiner Tugend. So wie die Bezauberung seiner Einbildungs-Kraft verging, hörte auch die Begierde auf, große Taten zu tun, allem Unrecht in der Welt zu steuern, mit den Feinden der allgemeinen Glückseligkeit sich herumzuschlagen, und die Menschen, wider ihren Dank und Willen, glücklich machen zu wollen. Nun sage man mir, nachdem es mit unserm Helden dazu gekommen war, (und, alles wohl erwogen, mußte es auf eine oder andere Art endlich dazu kommen; denn die edelste, die liebenswürdigste Schwärmerei, wenn sie gar zu lange dauert, und sich so gar durch die Maul-Esel-Treiber von Jangois nicht austreiben lassen will, wird endlich zu Narrheit,) was sollte, was konnte unser Autor nun weiter mit ihm anfangen? Einen misanthropischen Einsiedler aus ihm machen? – – Dazu war sein Kopf zu heiter und sein Herz zu schwach – – oder zu zärtlich – – oder zu gut; was ihr wollt; und zudem mochte unser Autor, der ein Grieche war, und wenigstens in die Zeiten des Alciphrons gesetzt werden muß, (wie die Gelehrten ohne unser Erinnern bemerkt haben) vermutlich von der Vortrefflichkeit einer einsiedlerischen Tugend die erhabenen Begriffe nicht haben, welche man sich in den wundervollen Zeiten des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts bis zu unsern philosophischen Zeiten davon gemacht hat, und (allem Ansehen nach) in einigen Ländern noch lange machen wird. Ihn wieder in die weite Welt zurückzuführen, wäre nichts anders gewesen, als ihn der augenscheinlichsten Gefahr aussetzen, in seiner antiplatonischen Denk-Art durch immer neue Erfahrungen bestärkt, und durch die Gesellschaft witziger und liebenswürdiger Leute, welche entweder gar keine Grundsätze, oder nicht viel bessere als der weise Hippias, gehabt hätten, nach und nach auch um diesen kostbaren Überrest seiner ehemaligen Tugend gebracht zu werden, den er glücklicher Weise aus der verpesteten Luft der großen Welt noch davon gebracht hat. Vielleicht hätte er in solchen Umständen noch immer eine Art von Mittel zwischen Weisheit und Torheit, eine mehr lächerliche als hassenswürdige Composition von kühnem Witz und unschlüssiger Vernunft, von wahren und willkürlichen Begriffen, von Aberglauben und Unglauben, von guten und bösen Leidenschaften, Gewohnheiten und Launen, von gleich betrüglichen Tugenden und Lastern; kurz, eine so vortreffliche Art von Geschöpfen werden können, wie ungefähr die meisten von uns andern sind, wir mögen es nun einsehen – – und wenn wir’s einsehen, eingestehen – – oder nicht. Bei so bewandten Umständen, und da es (wie gesagt) nun einmal die Absicht des Autors war, aus seinem Helden einen tugendhaften Weisen zu machen, und zwar solchergestalt, daß man ganz deutlich möchte begreifen können, wie ein solcher Mann – – so geboren – – so erzogen – – mit solchen Fähigkeiten und Dispositionen – – mit einer solchen besondern Bestimmung derselben – – nach einer solchen Reihe von Erfahrungen, Entwicklungen und Veränderungen – – in solchen Glücks-Umständen – – an einem solchen Ort und in einer solchen Zeit – – in einer solchen Gesellschaft – – unter einem solchen Himmels-Strich – – bei solchen Nahrungs-Mitteln (denn auch diese haben einen stärkern Einfluß auf Weisheit und Tugend, als sich manche Moralisten einbilden) – – bei einer solchen Diät – – kurz, unter solchen gegebenen Bedingungen, wie alle diejenigen Umstände sind, in welche er den Agathon bisher gesetzt hat, und noch setzen wird – – ein so weiser und tugendhafter Mann habe sein können, und (diejenigen, welche nicht gewohnt sind zu denken, mögen es nun glauben oder nicht,) unter den nämlichen, oder doch sehr ähnlichen Umständen, es auch noch heutzutage werden könnte: Da, sage ich, dieses seine Absicht war, so blieb ihm freilich kein andrer Weg übrig, als seinen Helden in diesen Zusammenhang glücklicher Umstände zu setzen, in welchen er sich nun bald, zu seinem eigenen Erstaunen, befinden wird. Freilich ist ein solcher Zusammenfluß glücklicher Umstände allzuselten, um wahrscheinlich zu sein. Aber wie soll sich ein armer Autor helfen, der (alles wohl überlegt) nur ein einziges Mittel vor sich sieht, aus der Sache zu kommen, und dieses ein gewagtes? Man hilft sich wie man kann, und wenn es auch durch einen Sprung aus dem Fenster sein sollte. Der kleine Held der Königin von Golconde ist nicht der erste, der sich durch dieses Mittel helfen mußte: Julius Cäsar würde ohne einen solchen Sprung das Vergnügen nicht gehabt haben, als Herr der Welt (wie man, zwar lächerlich genug, zu sprechen gewohnt ist,) durch die Straßen Roms ins Capitolium einzuziehen.
        Und soviel mag dann zur Rechtfertigung unsers Autors gesagt sein; wenn es anders zu seiner Rechtfertigung dienen kann, welches wir den Kunstrichtern überlassen müssen. Das Urteil mag indessen ausfallen wie es will, so beladet sich der Herausgeber, wie er schon erklärt hat, dessen im geringsten nicht. Die Absichten, warum er die alte Urkunde, welche zufälliger Weise in seine Hände gekommen ist, in einen Auszug von derjenigen Form und Beschaffenheit, wie die vorhergehenden zehen Bücher weisen, gebracht hat, sind bereits erreicht. Es ist verhoffentlich unnötig, sich hierüber näher zu erklären. Doch soviel können wir wohl sagen, daß er niemalen daran gedacht hat, einen Roman zu schreiben, wie sich vielleicht manche, ungeachtet des Titels und der Vorrede, zu glauben in den Kopf gesetzt haben mögen – – und da dieses Buch, in so fern der Herausgeber Teil daran hat, kein Roman ist, noch einer sein soll; so hat er sich auch um die so genannte Schürzung des Knotens, und ob der Verfasser der Urkunde seinen Knoten geschickt oder ungeschickt entwickelt oder zerschnitten hat, wenig zu bekümmern.