Testi Definizione


Theodor Fontane

Vowort


  • Vorwort
  • Erstes Kapitel: Meine Eltern
  • Zweites Kapitel: Gascogne und Cevennen - Französische Vettern - unsre Ruppiner Tage
  • Drittes Kapitel: Unsere Übersiedlung nach Swinemünde - Ankunft daselbst
  • Viertes Kapitel: Unser Haus, wie wirs vorfanden
  • Fünftes Kapitel: Unser Haus, wie's wurde
  • Sechstes Kapitel: Die Stadt; ihre Bewohner und ihre Honoratioren
  • Siebentes Kapitel: Die Schönebergs und die Scherenbergs
  • Achtes Kapitel: Die Krauses
  • Neuntes Kapitel: Wie wir in unserem Hause lebten - Sommer- und Herbsttage - Schlacht- und Backfest
  • Zehntes Kapitel: Wie wir in unsrem Hause lebten (Fortsetzung) - »Große Gesellschaft«
  • Elftes Kapitel: Was wir in Haus und Stadt erlebten
  • Zwölftes Kapitel: Was wir in der Welt erlebten
  • Dreizehntes Kapitel: Wie wir in die Schule gingen und lernten
  • Vierzehntes Kapitel: Wie wir erzogen wurden - wie wir spielten in Haus und Hof
  • Fünfzehntes Kapitel: Wie wir draußen spielten, an Strom und Strand
  • Sechzehntes Kapitel: Vierzig Jahre später - Ein Intermezzo
  • Siebzehntes Kapitel: Allerlei Gewölk
  • Achtzehntes Kapitel: Das letzte Halbjahr


  • Vorwort

    Als mir es feststand, mein Leben zu beschreiben, stand es mir auch fest, daß ich bei meiner Vorliebe für Anekdotisches und mehr noch für eine viel Raum in Anspruch nehmende Kleinmalerei mich auf einen bestimmten Abschnitt meines Lebens zu beschränken haben würde. Denn mit mehr als einem Bande herauszutreten, wollte mir nicht rätlich erscheinen. Und so blieb denn nur noch die Frage, ‘welchen’ Abschnitt ich zu bevorzugen hätte.
        Nach kurzem Schwanken entschied ich mich, meine Kinderjahre zu beschreiben, also »to begin with the beginning«. Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre stecke der ganze Mensch. Ich habe diesen Satz bestätigt gefunden, und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingültigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten. Entgegengesetztenfalls verbliebe mir immer noch die Hoffnung, in diesen meinen Aufzeichnungen wenigstens etwas ‘Zeitbildliches’ gegeben zu haben: das Bild einer kleinen Ostseestadt aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts und in ihr die Schilderung einer noch ganz von Réfugié-Traditionen erfüllten Französischen-Kolonie-Familie, deren Träger und Repräsentanten meine beiden Eltern waren. Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich trotzdem, vorsichtigerweise, meinem Buche den Nebentitel eines »autobiographischen ‘Romanes’« gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, daß ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert werden möchte. Für etwaige Zweifler also sei es Roman!

    Th. F.

    Torna su

    Erstes Kapitel

    Meine Eltern

    An einem der letzten Märztage des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der Löwen-Apotheke in Neuruppin, und ein junges Paar, von dessen gemeinschaftlichem Vermögen die Apotheke kurz vorher gekauft worden war, entstieg dem Wagen und wurde von dem Hauspersonal empfangen. Der Herr – man heiratete damals (unmittelbar nach dem Kriege) sehr früh – war erst dreiundzwanzig, die Dame einundzwanzig Jahr alt. Es waren meine Eltern.
        Ich gebe zunächst eine biographische Skizze beider.

    Mein Vater Louis Henri Fontane, geb. am 24. März 1796, war der Sohn des Malers und Zeichenlehrers Pierre Barthélemy Fontane. Was dieser, mein Großvater, als Maler leistete, beschränkte sich vorwiegend auf Pastellkopien nach englischen Vorbildern, als Zeichenlehrer aber muß er tüchtig gewesen sein, denn er kam zu Beginn des neuen Jahrhunderts an den Hof und wurde mit dem Zeichenunterricht der ältesten königlichen Prinzen betraut. Dies leitete sein Glück ein. Königin Luise wohnte gelegentlich dem Unterrichte der Kinder bei und alsbald an dem gewandten und ein sehr gutes Französisch sprechenden Manne Gefallen findend, nahm sie denselben als Kabinettssekretär in ihren persönlichen Dienst. Vielleicht geschah es auch auf Vorschlag des um jene Zeit überaus einflußreichen Kabinettsrats Lombard, der dabei den Zweck verfolgen mochte, seine auf ein Bündnis mit Frankreich hinarbeitende Politik durch bei Hofe verkehrende Persönlichkeiten verstärkt zu sehen. Die Gegner waren von dieser Ernennung wenig erbaut, und der national gesinnte Gottfried Schadow, damals noch nicht der »alte Schadow«, schrieb in sein Tagebuch: »Ein Herr Fontane, seines Zeichens Maler, ist Kabinettssekretär der Königin geworden; er malt schlecht, aber er spricht gut französisch.« Ob Pierre Barthélemy, mein Großvater, in seiner Stellung Einfluß geübt oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis, jedenfalls, wenn ein solcher Einfluß da war, war er von kurzer Dauer; denn dem Sturze Lombards, der nicht lange mehr auf sich warten ließ, folgte die Katastrophe von Jena, der Hof, flüchtig werdend, ging nach Königsberg, und Pierre Barthélemy, dessen Dienste keine weitere Verwendung mehr finden konnten, erhielt, in Berlin zurückbleibend, wohl als eine Art Abfindung, das Amt eines Kastellans von Schloß Niederschönhausen. Dorthin übersiedelte er nun, und von hier aus besuchte mein Vater drei Jahre lang, also wahrscheinlich bis Herbst 1809, das Gymnasium zum Grauen Kloster. Es waren harte Schuljahre, denn der weite, wenigstens anderthalb Stunden lange Weg nach Berlin erforderte, daß jeden Morgen um spätestens sechs Uhr aufgestanden werden mußte. »Winters froren wir bitterlich, und es wurde erst besser, als wir, mein älterer Bruder und ich, blaue, mit postorangefarbenem Kattun gefütterte Mäntel als Weihnachtsgeschenk erhielten. Aber es erwuchs uns daraus keine reine Freude. Jedesmal wenn sich der Wind in den mit einem gleichfarbigen Kattun gefütterten großen Kragen setzte, stand uns der postorangefarbene Kragen wie ein Heiligenschein zu Häupten, und der Spott der Straßenjungen war immer hinter uns her.« Es war dies eine Lieblingsgeschichte meines Vaters, der an ihr bis in sein Alter hinein festhielt und nichts davon wissen wollte, wenn ich ihm lachend von meinen eigenen, dem Vorstehenden sehr verwandten Schicksalen erzählte. »Ja, Papa«, begann ich dann wohl, »so bin ich, als ich so alt war wie du damals, auch gequält worden. Mama ließ mir um jene Zeit, ich war eben mit ihr in Berlin angekommen, Rock, Weste und Beinkleid aus einem milchfarbenen Tuchstoff machen, es war ein billiger Rest, und in der Klödenschen Schule hieß ich dann ein ganzes Jahr lang der ‘Antiquar aus der alten Post’. Der trug nämlich gerade solchen milchfarbenen Anzug und war überhaupt eine Karikatur.« – »Kann schon sein«, schmunzelte mein Vater, »so was ist mitunter erblich; aber Postorange war doch schlimmer, dabei muß ich bleiben. Es schrie förmlich in die Welt hinein.«
        Von guter Schülerschaft konnte bei den zwei Meilen Wegs, die jeden Tag zurückgelegt werden mußten, nach eignem Zeugnis meines Vaters nicht wohl die Rede sein. Es darf aber aus dem Umstande, daß er zeitlebens selbst von einer mangelhaften Schulbildung sprach, nicht auf eine Trauer über diesen Tatbestand geschlossen werden. Beinah das Gegenteil. Er hielt es nämlich, wie viele zu jener Zeit, mit gesundem Menschenverstand und Lebekunst, oder, wie es in unserer Haussprache hieß, mit »bon sens« und »savoir faire« und war, ganz vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, nie dazu zu bringen, sich zu willfähriger Anerkennung der »homines literati« aufzuraffen. Es gab das, wenn er seinen sogenannten »ehrlichen Tag« hatte, den Tag also, wo er aus seiner sonstigen Politesse herausfiel, mitunter recht verlegene Situationen für uns Kinder, im großen und ganzen aber bin ich ihm doch das Zeugnis schuldig, daß er, den ihm persönlich zu Gesichte kommenden Studierten gegenüber, in neunzehn Fällen von zwanzigen immer im Rechte war. Und es konnte dies auch kaum anders sein. Er war – weil er viel Zeit hatte, leider zuviel, was für ihn verhängnisvoll wurde – von Beginn seiner Selbständigkeit an ein überaus fleißiger Journal- und Zeitungsleser, und weil er sich nebenher angewöhnt hatte, wegen jedes ihm unklaren Punktes in den Geschichts- und Geographiebüchern, besonders aber im Konversationslexikon nachzuschlagen, so besaß er, auf gesellschaftliche Konversation hin angesehn, eine offenbare Überlegenheit über die meisten damals in kleinen Nestern sich vorfindenden Ärzte, Stadtrichter, Bürgermeister und Syndici, die, weil sie sich tagaus, tagein in ihrem Berufe quälen mußten, sehr viel weniger Zeit zum Lesen hatten. Erlitt er mal eine Niederlage, so gab er diese freimütig zu, ja, pries sogar seinen Sieger, blieb aber dabei, daß es ein Ausnahmefall sei.
        Und nun zurück zum Herbst 1809, wo mein Vater als Lehrling in die Berliner Elefanten-Apotheke eintrat. Diese Apotheke befand sich schon damals, wie heute noch, am oberen Ende der Leipziger Straße, jedoch nicht genau an gegenwärtiger Stelle, sondern ebendieser Stelle gegenüber, an der durch Leipziger- und Kommandantenstraße gebildeten Ecke. Bis vor wenig Jahren sah man noch den Elefanten in Höhe des ersten Stocks aus dem großen Eckpfeiler heraustreten, jetzt ist er fort, und nur die zahlreich über den Parterrefenstern angebrachten und an Elefantenrüsseln hängenden Gaslaternen erinnern noch an die frühere Geschichte des Hauses.
        In ebendieser Elefanten-Apotheke war mein Vater viertehalbjahr lang und verlebte diese Zeit mutmaßlich nicht gut und nicht schlecht, was ich daraus schließe, daß er über diesen Lebensabschnitt nie sprach. Vielleicht hatte dies Schweigen aber auch seinen Grund einfach in den großen Ereignissen, die folgten, so daß ihm für die voraufgegangenen Jahre von Durchschnittscharakter kein rechtes Interesse blieb. Herbst 1813 wäre seine Lehrzeit zu Ende gewesen, indessen König Friedrich Wilhelms des Dritten Aufruf an sein Volk kürzte diese Zeit um ein volles halbes Jahr, denn unter den sich freiwillig zum Eintritt Meldenden war auch mein Vater, damals noch nicht voll siebzehn Jahre alt. Über die nun folgende Kriegszeit habe ich ihn oft sprechen hören, meist durch mich veranlaßt, der ich nicht genug davon hören konnte. »Du warst also wohl sehr patriotisch, lieber Papa.« - »Nein, höchstens Durchschnitt. Offen gestanden, ich machte nur so mit. Wenn man siebzehn Jahr alt ist, erscheint einem ein freies Soldatenleben hübscher als ein Lehrlingsleben. Und wie's im Liede heißt, 'eine jede Kugel trifft ja nicht'. Aber wenn ich auch anders hätte denken wollen, ich hatte keine rechte Wahl. In dem Tuchgeschäfte von Köppen und Schier, dessen du dich, weil du ja selber in der Burgstraße gewohnt hast, vielleicht noch entsinnst, trat damals eine adlige Dame ein und wurde von einem hübschen jungen Manne mit blondem Schnurrbärtchen bedient. 'Ich wundere mich, Sie hier hinter dem Ladentisch zu sehn.' - 'Ich nicht, meine gnädigste Frau; ich stehe hier lieber als anderswo.' - 'Das seh ich,' antwortete die Dame, und dem hübschen Blondin eine Ohrfeige gebend, verließ sie das Lokal. Das war so die Stimmung damals, und weil ich dergleichen nicht gern erleben wollte, wurd ich als freiwilliger Jäger eingekleidet und empfing eine Büchse.« Diese sogenannte »Büchse«, die später in den Flurwinkeln unsrer verschiedenen Wohnungen verrostet und verstaubt umherstand, war eine Flinte von allergewöhnlichster Beschaffenheit, was übrigens keine weitre Bedeutung hatte, da mein Vater, seinem eignen Zeugnis nach, auch mit einer gezogenen Büchse nicht getroffen haben würde. Anfang April verließ er mit etwa fünfzig andern Freiwilligen Berlin und zog auf Sachsen zu, wo sich die kriegerischen Ereignisse bereits vorbereiteten. An Spitze dieser Fünfzig stand ein Hauptmann von Kesteloot, ein vortrefflicher Soldat aus der alten Armee. Ausbildung und Führung waren ihm anvertraut. Am ersten Tage rückte man spät nachmittags in Trebbin ein; die meisten waren fußkrank, humpelten und sahen sehr niedergedrückt aus. Kesteloot ließ sie noch einmal antreten und sagte: »Wenn unser allergnädigster König und Herr darauf angewiesen ist, mit Ihnen den Kaiser Napoleon zu schlagen, so tut er mir schon heute leid.« Der Zustand der kleinen Truppe verbesserte sich aber, und man erreichte die Umgegend von Leipzig in leidlicher Verfassung. Vier Wochen später, am 2. Mai, war die blutige Schlacht bei Groß-Görschen. Die freiwilligen Jäger wurden einem Garde-Bataillon eingereiht und machten in diesem die Schlacht mit. Mein Vater erhielt eine Kugel in den Tornister, die, nach Durchbohrung eines kleinen Wäschevorrats, in den Pergamentblättern einer dicken Brieftasche steckenblieb. Diese Brieftasche, mit der Kugel darin, hab ich mir oft zeigen lassen.
        »Du mußt wissen, mein lieber Sohn, es war kein Schuß von hinten; wir stürmten einen Hohlweg, auf dessen Rändern rechts und links französische Voltigeurs standen. Also Seitenschuß.« Das unterließ er nie zu sagen; er war vollkommen unrenommistisch, aber darauf, daß dies ein »Seitenschuß« gewesen sei, legte er doch Gewicht.
        Der Schlacht bei Groß-Görschen folgte die bei Bautzen und dieser wiederum eine Reihe kleinerer Scharmützel und Gefechte. »Die waren dir nun wohl vollkommen gleichgültig?« fragte ich. - »Kann ich durchaus nicht sagen.« - »Ich dachte, daß die Macht der Gewohnheit...« - »Diese Macht der Gewohnheit ist im Kriege, wenigstens nach meiner persönlichen Erfahrung, von keinerlei Trost und Bedeutung. Eher das Gegenteil. Man sagt sich, wer drei- oder viermal heil durchgekommen ist, hat Anspruch, das fünfte Mal dran glauben zu müssen. Eine Karte, die viermal gewonnen, hat immer Chance, das fünfte Mal zu verlieren.«
        Nach dem Waffenstillstande, bei Wiederausbruch der Feindseligkeiten, hatte sich meines Vaters Stellung erheblich geändert; er war inzwischen, ich weiß nicht, ob auf seinen Betrieb oder auf Antrag seines Vaters, aus dem Heere zurückgezogen und einer Feldlazarett-Apotheke zugewiesen worden. In dieser machte er nun den Rest des Krieges mit, sprach aber nie davon.
        Sommer 1814 war er wieder in Berlin und begann nun in verschiedene Stellungen einzutreten oder, wie der Fachausdruck lautet, zu »konditionieren«. Zuerst in Danzig, das er mit der damaligen Fahrpost, wie er gern erzählte, in sechs Tagen und sechs Nächten erreichte. Die dort zugebrachte Zeit blieb ihm durchs Leben eine besonders liebe Erinnerung. Seinem Danziger Engagement folgten ähnliche Stellungen in Berlin selbst, bis 1818 die Zeit für ihn da war, sich zum Staatsexamen zu melden. Als er in den Vorbereitungen dazu war, lernte er, unter Verhältnissen, über die ich auf den nächsten Seiten berichten werde, meine Mutter kennen und verlobte sich mit ihr.

    Meine Mutter, Emilie Labry, wurde den 27. September 1798 als älteste Tochter des Seidenkaufmanns Labry, Firma Humbert u. Labry, geboren. Handelsobjekt der Firma waren nicht gewebte Seidenstoffe, sondern Seidendocken, worauf meine Mutter Gewicht legte. Sie hielt die Docken für vornehmer als Zeug nach der Elle. Ob und wie weit sie darin recht hatte, kann ich nicht sagen, aber dessen entsinne ich mich deutlich, daß sie, vielleicht weil sie in hohem Maße den Sinn für Repräsentation hatte, von den Lebensgewohnheiten ihres Vaters, und zwar viel, viel mehr als von seinem Charakter oder sonstigen Tun, mit einem gewissen freudigen Respekte sprach. Wenn wir als Kinder, und auch später noch als Halberwachsene, mit ihr bei Josty Schokolade tranken und dabei die kleinen, bräunlich gerösteten Korianderbiskuits, die so leicht zerkrümeln und abbrechen, vorsichtig eintunkten, unterließ sie nie, zu uns zu sagen: »Ja, seht, Kinder, solche Korianderbiskuits, daran hing auch euer Großvater Labry. Aber aus Schokolade machte er sich nichts. Er trank vielmehr jeden Tag um elf und um sechs ein Glas französischen Rotwein und aß dazu nichts als zwei solcher Biskuits, immer mit den zierlichsten Handbewegungen und war überhaupt sehr mäßig. Ihr habt nichts davon geerbt, weder die Handbewegungen noch die Mäßigkeit.« Letzteres war nun allerdings sehr richtig, denn ich berechnete, während sie so sprach, wie viele Tassen ich wohl würde trinken können.
        Meine Großmutter mütterlicherseits, also die Mutter meiner Mutter, war eine geborene Mumme, von deren Familie ich nicht weiß, ob sie nicht, trotz ihres deutschklingenden Namens, doch vielleicht mit zur Kolonie gehörte. Jedenfalls bildeten die Beziehungen zu den Mummes einen besonderen Stolz meiner Mutter, vielleicht nur deshalb, weil »Onkel Mumme« Rittergutsbesitzer auf Klein-Beeren war und unter anscheinend glänzenden Verhältnissen lebte. Ich entsinne mich, daß er, neben allerhand Chaisen und Halbchaisen, auch einen Char à banc mit langen, kirschroten Sammetpolstern besaß, und in diesem weithin leuchtenden Prachtstück, wenn wir in Berlin zu Besuch waren, nach Klein-Beeren hinaus abgeholt zu werden, bedeutete uns allen, aber am meisten meiner Mutter, ein hohes Fest, nicht viel anders, wie wenn wir zu Hofe gefahren wären. Später schlief das alles ein. Ich glaube, Onkel Mummes Stern verblaßte.
        Das erwähnte Seidendockengeschäft befand sich, wenn ich recht berichtet bin, in der Brüderstraße, und hier verblieb auch die Labrysche Familie, als das Haupt derselben, mein Großvater Labry, bei sehr jungen Jahren (kaum vierzig Jahre alt) gestorben war. Die Witwe bezog ein in der Nähe des Petriplatzes gelegenes Haus, darin sie mehrere Jahre lang die erste Etage bewohnte, denn ihre Mittel waren für damalige Zeit nicht unbedeutend. In ebendieser Wohnung erlebte meine Mutter den Brand der Petrikirche, ein Ereignis, das einen großen Eindruck auf sie machte und bis in ihre letzten Lebensjahre hinein einen bevorzugten Gesprächsstoff für sie bildete. Sie entsann sich jedes Kleinsten, das dabei vorgekommen war. Ihre damals schon kränkelnde Mutter starb wenige Jahre später, und da die von vieler Not begleiteten Kriegszeiten nicht Zeiten waren, in denen Familienangehörige sich der Verwaisten annehmen konnten, so kamen die jüngeren Kinder in das französische Waisenhaus und nur meine Mutter in ein Pensionat, wozu die Zinsen ihres Vermögens vollkommen ausreichten. Sie wurde bald ein Liebling des Kreises, den sie vorfand, und hatte den vollsten Anspruch darauf, denn sie war jederzeit gütig und hilfebereit. Erst in meinen alten Tagen ist mir der Sinn für ihre Superiorität aufgegangen. Als ich selber noch jung war, erschien mir vieles in ihrer Haltung, besonders meinem Vater gegenüber, zu hart und zu herbe, später indes habe ich einsehen gelernt, wie richtig alles war, was sie tat, vor allem auch, was sie nicht tat, und beklage jetzt jeden gegen sie gehegten Zweifel. Sie war dem ganzen Rest der Familie, der damaligen wie der jetzigen, weit überlegen, nicht an sogenannten Gaben, aber an Charakter, auf den doch immer alles ankommt. Ihre ganz südfranzösische Heftigkeit, die mitunter geradezu ängstliche Formen annahm, war vielleicht nicht immer zu billigen, aber doch schließlich nichts andres als eine beneidenswerte Kraft, sich über Pflichtverletzung und unsinnige Lebensführung tief empören zu können, und ich muß es als ein großes Unglück ansehen, daß diese mir jetzt klar zutage liegenden Vorzüge von uns allen zwar immer gewürdigt, aber in ihrem vollen Wert und Recht nie ganz erkannt wurden. Ich werde in weiterem vieles zu berichten haben, das diese Worte bestätigt.
        Das schon erwähnte Pensionat, in das meine Mutter, achtzehn Jahre alt, eintrat, war das der Madam Lionnet, und unter den verschiedenen Freundinnen, die sie hier fand, stand Louise Rogée obenan, damals schon eine sehr beliebte, fast gefeierte Schauspielerin, aber, wie's scheint, in der Pension verblieben. Eines Tages hieß es, Louise Rogée habe sich verlobt, und zwar mit einem jungen Architekten, dem ältesten Sohne des Kabinettssekretärs Pierre Barthélemy Fontane. Die Nachricht bestätigte sich, und auf einem der gelegentlichen Besuche, die Louise Rogée, jedesmal von einer Pensionsfreundin begleitet, im Hause ihres künftigen Schwiegervaters machte, lernte meine Mutter den zweiten Sohn Pierre Barthélemys kennen - meinen Vater. Man fand rasch Gefallen aneinander, und da die Verhältnisse glücklich lagen, kam es sehr bald zur Verlobung, und das Haus meines Großvaters sah auf kurze Zeit zwei Brautpaare unter seinem Dache.
        Der Verlobung meines Vaters folgte das Staatsexamen, damals nicht viel mehr als eine Form, und an das glücklich bestandene Examen schloß sich, beinah unmittelbar, der Ankauf der Neuruppiner Apotheke.
        Am 24. März, dem Geburtstage meines Vaters, war Hochzeit, und drei Tage später traf das junge Paar in seiner neuen Heimat ein.

    Torna su

    Viertes Kapitel

    Unser Haus, wie wirs vorfanden

    Am Abend, wo wir ankamen, hatte ich einen wenig günstigen Eindruck von unserm Hause gehabt, es war mir recht häßlich und, als dann der Mond in die Fenster schien, auch sogar etwas unheimlich vorgekommen. Mit diesem Unheimlichen, wie sich bald herausstellte, hatte es denn auch seine Richtigkeit, wenigstens in dem Glauben der Dienstleute. Wenn es nachts auf dem Boden über uns unruhig wurde, hieß es: »De oll Geißler geiht wedder üm«, oder auch wohl: »He kuckt wedder in all sien Kisten und Kasten«, und wirklich, man hörte deutlich, wie die Deckel der großen Kräuterkisten auf- und wieder zugeschlagen wurden. »Das sind die Katzen«, erklärte später mein Vater, aber ich war mit dieser Auslegung nie recht zufrieden und hielt mit Vorliebe zu dem Satze: »De oll Geißler geiht wedder üm.« Von diesem allen hatte ich, um es zu wiederholen, gleich am ersten Abend ein unbestimmtes, mich eine Weile gruselig machendes Gefühl, das noch wuchs, als der vor meiner Schlafkammer stehende Kirschbaum leise die Scheiben streifte. Aber müde von der Reise, schlief ich trotzdem ein und erschien am andern Morgen wohlgemut in der noch leeren Wohnstube meines Vaters. Hier, auf Schemeln und Küchenstühlen sitzend (denn mit Ausnahme der Betten war noch nichts ausgepackt), nahmen wir gemeinschaftlich das Frühstück, mein Vater in bester Stimmung. Als wir, es währte nicht lange, damit fertig waren, nahm er mich bei der Hand und sagte: »Nu komm, mein Junge; die andern sind noch zu klein, aber du bist schon verständig, und da wollen wir uns denn die Sache mal ansehen. Als ich Weihnachten hier war, war es so kalt, du weißt, daß der Kognak einfror, und da war denn an Inspektion nicht zu denken. Ein bißchen habe ich die Katze im Sack gekauft. Aber das tut nichts, alles im Leben bleibt unsicher, und die Geschäftsbücher stimmten.« Er sagte das meiste davon mehr zu sich selbst als zu mir, wie er denn sein ganzes Leben lang seine Konversation immer mehr nach seinem persönlichen Bedürfnis als nach der Beschaffenheit seiner Hörer einrichtete. Meistens waren es Selbstgespräche. Seine letzten Jahre verlebte er mit einer ihm seine kleine Wirtschaft führenden, ganz beschränkten Person, aber das hinderte ihn nicht, mit ihr zu philosophieren, das heißt alles, was ihm einfiel, in sie hineinzureden.
        Und nun zurück zu der beabsichtigten Hausinspizierung, die wir gleich nach dem Frühstück antraten. Ehm wurde gerufen, um uns auf unsrem Umgange, wenn nötig, Auskunft zu geben, was er sehr gut konnte. Denn er war schon viele Jahre lang »Kohlenprovisor« und wußte Bescheid in allem.
        Unser nächstes Ziel waren die Böden, deren sich nicht weniger als fünf unter dem Riesendache befanden. Der erste Boden, zu dem eine knarrende Treppe mit abgelaufenen Stufen hinaufführte, war ein Prachtstück in seiner Art, hoch und frisch und zugleich mit einer Welt von Dingen ausgestattet, die mich sofort für sich einnahmen: Schornsteine von beinah lächerlich mächtigem Umfang, eingegitterte Verschläge mit Vorlegeschlössern, gezogene Leinen, daran Wäsche hing, und dazu, an diesem ersten Morgen wenigstens, Schwalben und Schmetterlinge, die durch die vielen Fenster und Gucklöcher beständig aus und ein flogen. In verhältnismäßiger Nähe des umfangreichsten Schornsteins aber stieg eine zweite Treppe, eigentlich bloß eine geradlinige Leiter, zunächst bis auf den zweiten Boden und von diesem in unmittelbarer Fortsetzung bis auf den dritten hinauf. Zur Seite hing ein geteertes Tau, daran man sich festhielt. Als wir bis an die Stelle gekommen waren, wo die Leiter, und zwar ohne einen Knick oder Absatz zu machen, einfach die Dielung des zweiten Bodens durchbrach, sah ich, daß ein schweres Rad, aber von nur geringem Durchmesser, hart neben dem Durchschlüpfeloche lag, ein Anblick, bei dem ich, ich weiß nicht warum, sofort fühlte, daß es damit was Besonderes auf sich haben müsse. Mein Vater empfand gerad ebenso, schob aber alles Fragen danach vorläufig hinaus, weil wir fortgesetzt im Steigen waren und das Klettern auf den immer schmaler werdenden Leitern die größte Vorsicht gebot. Erst als wir eine Weile danach und nach Musterung des dicht unter dem Dachfirst hinlaufenden Glas- und Krukenbodens wieder abwärts stiegen und auf diesem Abstieg die terra firma des ersten Bodens erreicht hatten, setzte sich mein Vater, um auszuruhen, auf eine der großen Kräuterkisten und sagte: »Das ist ja zum Halsbrechen, Ehm. Und dann das Rad da oben? Was ist es mit dem Rad? Wie kommt das dahin?«
        Ehm erzählte nun in seinem Plattdeutsch, daß es das Rad sei, womit der Mörder Hannacher - aber das sei nun schon lange, das Jahr vorher, ehe die Franzosen ins Land kamen - vom Leben zum Tode gebracht worden sei. Hannacher habe dicht bei dem Dorfe Morgnitz einen Schäfer erschlagen und bloß einen Münzgroschen bei ihm gefunden, und als er den Münzgroschen im Morgnitzer Krug vertrunken habe, da sei's auch schon herausgekommen.
        »Ein wahres Glück«, sagte mein Vater, »je eher so was rauskommt, desto besser. Aber das Rad! Was soll das da? Wie kommt das dahin?!«
        »Dat hett de oll Geißler an sich bracht, ick weet nich mehr för wieveel. Un he wull ja woll, dat et em Glück in't Huus bringen sall.«
        Mein Vater, der dabei seiner eigenen, am Tage vorher zugunsten des Scharfrichterkarrens gehaltenen Rede gedenken mochte, war von dem, was Ehm jetzt sagte, wenig angenehm berührt und meinte, zuviel Glück sei auch nicht gut. »Aber nun wollen wir uns den Schimmel ansehn, Ehm, um auf andre Gedanken zu kommen... Is denn hier öfter so was los, wie das mit dem Hannacher?«
        »Nu so ab un an. Toletzt hedden wi joa dat mit Muhrn un sine Fru.«
        Ehm wollte sichtlich in diesem Thema fortfahren, aber mein Vater hörte nicht mehr recht hin und vergaß bald sowohl Hannacher wie »Muhrn un sine Fru«, als er, unten im Stall angekommen, der vorzüglichen Einrichtung, die da herrschte, gewahr wurde. »Ei, Ehm, da sind ja zwei Krippen und zwei Raufen. Also Platz für zwei Pferde. Was er sich nur dabei gedacht haben mag. Ich meine den alten Geißler, der ja doch ein Geizkragen gewesen sein soll. Na, mir kanns gleich sein. Is ja wahrhaftig, als ob er alles für seinen Nachfolger eingerichtet hätte. Und das ist das Wahre. Für die Nachkommen muß man sorgen.«

    Das Riesendach mit seinen fünf Böden hatte seines Eindrucks auf mich nicht verfehlt, das Haus selbst aber, das geduckt unter diesem Dache lag und von dem ich in Nachstehende meine Schilderung versuche, ließ, wie äußerlich, so auch in seinem Innern viel zu wünschen übrig. An den mit Ziegelsteinen gepflasterten Flur lehnte sich, gerade die Mitte desselben treffend, von links her eine mächtige Küche, von rechts her ein gewölbtes Laboratorium, als Grundform des ganzen Hauses ein Kreuz herstellend, in dessen vier Ecken sich vier Quadrate mit sehr primitiven Geschäfts- und Wohnräumen einschoben. In dem ersten Quadrate befand sich außer der Apotheke noch die Gehilfenstube, während das zweite Quadrat nur ein einziges Zimmer umschloß, einen mehrfenstrigen Saal, den Stolz des Hauses. Apotheke wie Saalzimmer sahen auf die Straße. Die die Rückfront bildenden Quadrate drei und vier hatten dagegen den Blick auf den Garten und bestanden einerseits aus einem Wohnzimmer für meinen Vater, andererseits aus einer Stube für uns Kinder. Wo es irgend ging, waren verbleibende kleine Raumreste zu Schlafkammern hergerichtet; nur der Saal blieb von so niederer Umgebung verschont. Im übrigen war alles klein und eng. Von gefälliger Ausschmückung an Wand oder Decke zeigte sich nirgends eine Spur, Öfen und Dielen waren schlecht, ganz besonders unschön aber war die schüttgelbe Farbe, womit, wie der Flur, so auch alle Zimmer des Hauses gleichmäßig gestrichen waren. Nur die Gehilfenstube - vielleicht in Huldigung gegen die daneben liegende Apotheke - zeigte statt des Schüttgelb einen Anstrich von Schweinfurter Grün, bekanntlich arsenikhaltig. Um aber die gesundheitswidrige Wirkung dieser Farbe nach Möglichkeit auszugleichen, war in eine der obersten Fensterscheiben eine blecherne Rose eingesetzt, die unter beständigem Sichdrehen für frische Luft zu sorgen hatte, dabei aber einen unerträglichen Lärm machte. Ja, häßlich, eng und vernachlässigt war alles, am vernachlässigtsten aber war die Kinderstube, drin, grad in der Mitte, ein großes Stück Diele fehlte, so daß der Dünensand, darauf das Haus ohne Untermaurung stand, zum Vorschein kam. Später söhnte ich mich mit diesem Dielenloch freilich aus, denn gerade diese Sandstelle wurde, wenn wir bei schlechtem Wetter nicht hinaus konnten, zum bevorzugten Spielplatz für uns Kinder, wo wir mit vier würfelförmigen Steinen unser Lieblingsspiel spielten. Dies Lieblingsspiel hieß »Knut«, war also vielleicht dänischen Ursprungs und lief darauf hinaus, daß man, den vierten Stein hoch in die Luft werfend, ihn im Niederfallen unter gleichzeitigem Aufraffen der im Sande liegengebliebenen drei andern Steine wieder auffangen mußte.
        Neben dieser bequemen Spielgelegenheit beherbergte die Stube, um vom Guten nichts zu verschweigen, auch noch ein andres, das für ein phantastisches Kind wohl angetan war, mit der sonst herrschenden Dürftigkeit auszusöhnen. Gerade hier nämlich war, auf einem Lehnstuhl sitzend, der alte Geißler gestorben, und wenn ich mich abends an ebendieser Stelle zwischen Schrank und Ofen niederließ und dann das Klappen und geheimnisvolle Rumoren über mir anhob, so war der Zauber davon so groß, daß von Prosa der Umgebung keine Rede mehr sein konnte.
        Das alles aber empfand ich erst später. Vorläufig kehre ich zu Schilderung der verschiedenen Räumlichkeiten zurück. Unter diesen nahmen Laboratorium und Küche den ersten Rang ein. Beide konnten als Glanzstücke gelten, und wenn die Küche mit ihrem bis dicht auf den Herd herabhängenden und mit blankem Ruß ausgefüllten Rauchfang etwas von einer spanischen Posada hatte, so präsentierte sich, von der andren Seite her, das Laboratorium mit seinen Retorten und Destillierapparaten (zwischen denen ein getrockneter Buttfisch von der gewölbten Decke hing) als ein vollkommen alchimistischer Raum, darin Faust sein »Habe nun, ach« ohne weitres hätte beginnen können. Ja, in seiner grotesken Unmodernität war hier, im vollsten Gegensatz zu den prosaischen Wohnräumen, alles frappierend interessant, und ich könnte noch jetzt Veranlassung nehmen, davon zu schwärmen, wenn ich nicht gleich damals, beim ersten Eintritt in die ganze phantastische Herrlichkeit, eine Kopfschmerz erzeugende, mich arg bedrückende Luft wahrgenommen hätte. Nicht zu verwundern. Mitten in dem Laboratorium stand eine Plumpe, der es nicht bloß oblag, den ganzen Hausstand mit Wasser zu versorgen, sondern auch sämtliche, von Dekokten und allerhand Aufgüssen herrührende Blätter- und Wurzelreste wegzuschwemmen. All dieser Abgang wurde vermittelst einer schräglaufenden Steinrinne in eine Senkgrube geführt, die sich schon draußen auf der Straße befand, deren Ausdünstungen aber nichtsdestoweniger in das Laboratorium zurückschlugen. Allzu schlimm kann es nun freilich damit nicht gewesen sein, denn während meines fünfjährigen Swinemünder Aufenthalts kam in unsrem Hause kein Typhusfall vor, nur für mich persönlich wurde diese Sumpfluft geradezu schrecklich, und alsbald, und dann ein ganzes Jahr lang, vom kalten Fieber geschüttelt, legte ich hier die Grundlage zu meinem immer zum Malariafieber hinneigenden Gesundheitszustande. Sehr wahrscheinlich wäre mir dies alles erspart geblieben, wenn sich mein Vater zu zwanzig oder fünfzig Gran Chinin hätte aufraffen können. Aber Chinin war damals noch teuer, und so mußte ich mich mit einer aus Chinarindenpulver und eingedicktem Mohrrübensaft zusammengerührten Latwerge begnügen. Die wollte nicht recht helfen, abgesehen davon, daß es eine Qual war, sie herunterwürgen zu müssen. Ich denke noch mit eigentümlichen Gefühlen daran zurück, aber es herrschte damals ganz allgemein das Erziehungsprinzip vor: »Ach, solch Junge frißt sich durch«, und mein Vater, der, wenn es ihm gerade paßte, dergleichen Ersparnisse wissenschaftlich zu begründen liebte, mochte wohl noch hinzusetzen: »Eigentlich ist Chinarinde das Wahre, weil das natürlich Gegebene; Chinin ist schon Luxus, und Luxus ist nicht für Kinder.« In ähnlichem Sinne hab ich ihn, bei andern Gelegenheiten, manch liebes Mal sprechen hören. Aber gleichviel, ob er damals so dachte oder nicht, das an mir ersparte Chinin war eine große Härte, so groß, daß ich - weil ich einem unkindlichen Gefühle hier nicht gern Ausdruck geben möchte - davon schweigen würde, wenn ich nicht zu meiner herzlichen Freude hinzuzusetzen hätte, daß mein Vater all das, was er an zu Forderndem damals unterließ, später reichlich wieder ins gleiche brachte. Viele Jahre danach, als es ihm selber schlecht ging und sein Vermögen bis auf ein Minimum zusammengeschrumpft war, hat er mir in hochherziger und rührender Weise geholfen. Es handelte sich für mich um einen längeren und ziemlich kostspieligen Aufenthalt in England. Er half mir dazu, ohne langes Besinnen und ohne sentimentale Redensarten, unter Dransetzung letzter Mittel. Und so fügte sichs denn, daß er, der in guten Tagen in diesem und jenem wohl manches versäumt hatte, schließlich doch der Begründer des bescheidenen Glückes wurde, das dieses Leben für mich hatte.

    Das Haus, zumal die eigentlichen Wohnräume, waren, das mindeste zu sagen, anfechtbar, entzückend aber waren Hof und Garten.
        Zunächst der Hof. Dieser glich mehr oder weniger einer Ackerwirtschaft, worüber mein Vater, dessen Neigungen samt und sonders nach der landwirtschaftlichen Seite hin lagen, außerordentlich befriedigt war. Aber auch wir Kinder waren es, ich an der Spitze. Da waren natürlich Pferde-, Kuh- und Schweineställe, Gesindestuben (sonderbarerweise mit Taubenhaus), Torf- und Heuboden, Roll- und Häckselkammer und endlich eine riesengroße Wagenremise, die zugleich als Holzstall diente. Neben der Remise lag ein mit allerhand gläsernen und namentlich irdenen Vorratsflaschen besetzter Keller, der, zumal in Herbst- und Frühjahrstagen, eine besondre Vergnügungsstätte für uns bildete. Dann stieg hier das Grundwasser und schuf auf Wochen hin etwas wie eine kleine Überschwemmung. Anfangs half man sich mit Kloben und Bretterlagen, stieg das Wasser aber immer höher, so schafften wir Kinder schließlich Kufen und Waschfässer hinunter, auf denen wir nun, einen Riesenspatel statt des Ruders in der Hand, umherfuhren, um als Seeräuber an den vier »Küsten« anzulegen. An diesen hausten wir dann unerbittlich und setzten, uns gütlich tuend, die sonderbar geformten Krüge mit Himbeer- und Johannisbeersaft wie große Methörner an den Mund. »Wo nur immer die Fruchtsäfte bleiben?« sagte dann wohl mein Vater und schüttelte den Kopf.
        Ja, dieser Hof! An drei Seiten war er von allerhand Baulichkeiten eingefaßt, an der vierten aber zog sich ein mit Eisenspitzen besetzter, hoher Bretterzaun hin, an dem entlang und in Höhe noch weit über ihn hinauswachsend prächtiges Buchenklafterholz dicht aufgeschichtet lag, ein Anblick, der mich bei meiner Spiel- und Kletterlust gleich im ersten Augenblick erkennen ließ: Hier ists gut sein.
        Und was von dem Hofe galt, galt auch, und womöglich noch gesteigert, von dem in einem rechten Winkel angelegten, also einen Knick machenden Garten, der durch ebendiesen Knick aus zwei gleich großen Teilen bestand. Die erste Hälfte, mit Reseda und Ritterspornbeeten, mit Rabatten und Rondellen und nicht zum letzten mit allerhand am Spalier gezogenen Obstarten besetzt, war ein richtiger Garten, während die zweite Hälfte mehr einer Wildnis glich. Aber freilich einer sehr malerischen. An ein paar schon vom Winde gebeugten und deshalb schrägstehenden und die verwunderlichsten Linien aufweisenden Zäunen entlang zogen sich hier die Himbeer- und Johannisbeersträucher in geradezu wuchernden Massen, bis ganz zuletzt ein schon auf Nachbars Seite stehender und an Größe fast einem Baume gleichender Berberitzenstrauch seine mit den prächtigsten roten Früchten überdeckten Zweige herüberreichte. Diese zweite Gartenhälfte war unser Reich. Da spielten wir halbe Tage lang und legten Burgen an oder turnten am Reck oder brachen Planken aus dem Zaun und zogen auf Raub in die Nachbargärten. Schöner aber als alles das war, für mich wenigstens, eine zwischen zwei Holzpfeilern angebrachte, ziemlich baufällige Schaukel. Der quer überliegende Balken fing schon an morsch zu werden, und die Haken, an denen das Gestell hing, saßen nicht allzu fest mehr. Und doch konnt ich gerade von dieser Stelle nicht los und setzte meine Ehre darin, durch abwechselnd tiefes Kniebeugen und elastisches Wiederemporschnellen die Schaukel derartig in Gang zu bringen, daß sie mit ihren senkrechten Seitenbalken zuletzt in eine fast horizontale Lage kam. Dabei quietschten die rostigen Haken, und alles drohte zusammenzubrechen. Aber das gerade war die Lust, denn es erfüllte mich mit dem wonnigen und allein das Leben bedeutenden Gefühle: Dich trägt dein Glück.

    Torna su

    Fünftes Kapitel

    Unser Haus, wie's wurde

    »Wie wir unser Haus vorfanden«, das bildete, von etlichen Einschiebseln und ein paar Exkursen in die Zukunft abgesehen, den Inhalt des vorigen Kapitels. In diesem neuen Kapitel geh ich, freilich gelegentlich auch hier wieder Kommendes vorwegnehmend, zu einer Schilderung der Umgestaltungen über, die sich in verhältnismäßig kurzer Zeit in unserem Hause vollzogen. Daß es in so kurzer Zeit geschah, hatte vorwiegend in dem innerhalb vier oder sechs Wochen bevorstehenden Eintreffen meiner Mutter seinen Grund, bis wohin alles in guter Ordnung sein sollte. Mein Vater, den dabei, neben einer kleinen Baupassion, auch wohl eine gewisse Courtoisie gegen seine trotz aller Kriegführung sehr geliebte Frau beseelen mochte, ging in Ausführung seines Tuns auf zwei Linien vor, von außen und innen, und stellte sich, was das »Außen« anging, vor allem den Abputz des ganzen Hauses, was das »Innen« anging, die Möblierung und Einrichtung zweier Räume: des für seine Frau bestimmten »Salons« und seines eigenen Wohnzimmers, zur Aufgabe.
        Dies doppelte Vorgehen war von einem sehr verschiedenen Erfolge begleitet.
        Was zunächst den Angriff von »Außen«, also die dem Abputz und Anstrich des Hauses geltende Neuerung betraf, so scheiterte diese total. Von der aus einem feineren Stilgefühl hervorgehenden Anschauung, daß unter Umständen etwas geradezu Häßliches einem an und für sich Hübscheren, aber durchaus Unpassenden immer noch vorzuziehen sein könne, wußte man damals im Publikum nicht viel, und so kam es, daß mein Vater, nachdem er sich mit einem uns schräg gegenüber wohnenden Haus- und Stubenmaler in Verbindung gesetzt hatte, mit ebendiesem einen himmelblauen Ölfarbenanstrich verabredete. Für den Maler war dies, bei der beträchtlichen Zahl von Quadratfußen, die mit dem teuren Anstrich zu bedecken waren, eine sehr lohnende Aufgabe, für das Haus selbst aber, dem diese Verschönerung galt, ging dadurch das Beste verloren, was es bis dahin gehabt hatte: sein grotesker Charakter.
        Der Außenangriff also scheiterte.
        Desto mehr dagegen, wenn auch freilich nicht in allen Stücken, glückte das Vorgehn im Innern, weil hier das meiste, was geschah, sich mehr oder weniger gefällig in den schlicht gegebenen Rahmen einfügte. Daß es so kam, war natürlich ein bloßer Zufall und hatte darin seinen Grund, daß das zur Einrichtung der genannten Zimmer zur Verfügung stehende Mobiliar vorwiegend alt oder doch nicht ganz neu war. Besonders das ganz alte, das dem Nachlasse meines, wie schon erwähnt, kurz zuvor verstorbenen Großvaters entstammte, paßte wundervoll und erzielte, wo es zur Verwendung kam, genau das, was ich bei Zimmereinrichtungen bis diesen Tag am höchsten schätze: Das Anheimelnde und Gemütliche.
        Da war zunächst das dreifenstrige Saalfenster in Front des Hauses, das bestimmt war, der »Salon« meiner Mutter zu werden. Das Schüttgelb seiner Vorexistenz war bald verschwunden, und ein dunkles Ultramarin, die Lieblingsfarbe meines Vaters, trat an seine Stelle, während an der langen, weißgetünchten Decke hin, und zwar von der Hand desselben Meisters, der draußen den Ölfarbenanstrich geleistet hatte, eine halb mythologische Darstellung entstand. Solche mythologisch anklingenden Deckenbilder haben meinen Vater, der eine mir unerklärliche Vorliebe dafür hatte (denn er war eigentlich schlecht bewandert in der Götterlehre), durchs Leben hin begleitet. Überall, wo er sich häuslich einrichtete, mußte das einfache Stern- oder Rosettenornament, das er vorfand, alsbald einer »höhern Darstellung« weichen, in der meistens ein an Leda-Bilder erinnernder, sich mächtig aufbäumender Schwan die Hauptrolle spielte. Mitunter (so auch hier) waren es mehrere Schwäne. Zu diesem Deckenbilde gesellte sich als berechtigtere vorwiegend alt oder doch nicht ganz neu war. Besonders das ganz alte, das dem Nachlasse meines, wie schon erwähnt, kurz zuvor verstorbenen Großvaters entstammte, paßte wundervoll und erzielte, wo es zur Verwendung kam, genau das, was ich bei Zimmereinrichtungen bis diesen Tag am höchsten schätze: Das Anheimelnde und Gemütliche.
        Da war zunächst das dreifenstrige Saalfenster in Front des Hauses, das bestimmt war, der »Salon« meiner Mutter zu werden. Das Schüttgelb seiner Vorexistenz war bald verschwunden, und ein dunkles Ultramarin, die Lieblingsfarbe meines Vaters, trat an seine Stelle, während an der langen, weißgetünchten Decke hin, und zwar von der Hand desselben Meisters, der draußen den Ölfarbenanstrich geleistet hatte, eine halb mythologische Darstellung entstand. Solche mythologisch anklingenden Deckenbilder haben meinen Vater, der eine mir unerklärliche Vorliebe dafür hatte (denn er war eigentlich schlecht bewandert in der Götterlehre), durchs Leben hin begleitet. Überall, wo er sich häuslich einrichtete, mußte das einfache Stern- oder Rosettenornament, das er vorfand, alsbald einer »höhern Darstellung« weichen, in der meistens ein an Leda-Bilder erinnernder, sich mächtig aufbäumender Schwan die Hauptrolle spielte. Mitunter (so auch hier) waren es mehrere Schwäne. Zu diesem Deckenbilde gesellte sich als berechtigtere Zimmerdekoration eine saubre Fensterausschmückung: in große Messingblechgriffe zurückgeschlagene Gardinen, vor deren einer ein Trittbrett mit Maroquinlehnstuhl stand, auf dem meine Mutter, eine Stickerei oder Häkelarbeit in der Hand, schon vormittags zu residieren pflegte. Der Blick, den sie von diesem Trittbrett aus hatte, war sehr gefällig. Unter den Zweigen einer unmittelbar vor dem Fenster stehenden Linde hinweg blickte sie, wenn sie von ihrer Arbeit aufsah, auf den jenseits der Straße gelegenen Kirchplatz mit seinen verschiedenen Baumstämmen und Sägeböcken hinüber, wo wir Kinder, wenns irgend ging, unsre Spiele spielten. Kam dann zwölf Uhr heran, so gab sie diesen Beobachtungsposten am Fenster auf, aber nur selten, um an dem Mittagessen teilzunehmen, sondern um sich in den Garten oder noch lieber in die stille Giebelstube des Hauses zurückzuziehn. Erst um die vierte Stunde kehrte sie wieder an ihren Lieblingsplatz zurück. Und nun begann für sie die schönste Zeit des Tages, die Zeit, wo Besuch kam und die Vorbereitungen zum Kaffee getroffen wurden. Es war das damals alles viel hübscher und malerischer als jetzt; Tassen und Kuchenkörbe standen schon da, daneben eine kupferne hohe Kanne mit eingehängtem Beutel, und nur das heiße Wasser zum Aufbrühen fehlte noch. Und nun kam der Hauptmoment, der, wo die Mama die Klingel zog und gleich darauf ein merkwürdiger Bau hereingetragen wurde, dessengleichen ich seitdem nicht wieder gesehn. Es war ein ovaler, mit glühenden Kohlen gefüllter Eisenblechkasten, der, weil er sich als solcher schlecht präsentiert haben würde, wieder in einem etwas größeren, blitzblank geputzten Messingbehälter steckte, durch dessen zahllose Löcher hindurch man den eisernen Innenkasten glühen sah. Auf diesem etwas komplizierten Bau stand ein beinah kugelrunder Wasserkessel, aus dessen Tülle der Dampf kräuselnd aufstieg. Und nun, unter gefälligem Weiterplaudern, worin sie, wenn sie wollte, virtuos war, stieg meine Mama von ihrem Maroquinthron herab, um gleich danach jedem einzelnen Gaste die ihm zuständige Tasse zu reichen. Jetzt muß es Meißner Zwiebelmuster oder dem Ähnliches sein, damals aber bildeten die Tassen eine kleine Galerie von Miniaturbildern, auf denen in der Regel ein ans Knie der Venus sich anschmiegender Amor den Pfeil schärfte, meist aber schon den Bogen spannte, sicher das in Front eines Gebüsches stehende leichtbekleidete Paar mit seinem Liebespfeil zu treffen. Und dann wurde ich aufgefordert, die Kuchenkörbe herumzureichen, oft eine Tantalusqual für mich, wenn der lebhafte Gang der von den Damen geführten Unterhaltung über den alten Satz, »daß der Arbeiter seines Lohnes würdig sei«, hinwegsehen ließ.
        All das ist mir im Plaudern wieder lebendig geworden, und in der Rückerinnerung daran habe ich zu meinem Leidwesen außer acht gelassen, daß ich in erster Reihe nicht von den Kaffeegesellschaften meiner Mama, sondern von der Saloneinrichtung erzählen wollte, die mein Vater damals in liebenswürdigem Eifer ins Werk zu setzen sich abmühte. Zurück also zu dieser meiner Schilderung. An der Längswand, den drei Fenstern gegenüber, stand ein Sofa mit dicht gestellten Stühlen, so dicht, wie sie nur in einem Tanzsaale zu stehen pflegen; das Sofa selbst aber - in einem abgeplatteten Barockstil gehalten, wenn überhaupt noch von Stil die Rede sein konnte - trug einen quittgelben Moiré-Überzug und war an Front und Rückenlehne mit vielen Hunderten von kleinen Silbernägeln besetzt. Das Ganze zunächst schwerfällig und dabei prätentiös und ärmlich zugleich. Um vieles besser machte sich der an der Schmalseite des Zimmers aufgestellte Trumeau, dessen Bekrönung, weil die Höhe des Zimmers nicht ausgereicht hatte, zu größerem Teile beseitigt worden war. Aber auch in dieser fast bekrönungsbaren Verfassung war er immer noch das Prachtstück der ganzen, von uns selbst wenigstens vielbewunderten Einrichtung. Daß wir unsrerseits so hoch davon dachten, war bei aller nachträglichen Komik der Sache doch sehr verzeihlich. Alle diese langweiligen Gegenstände nämlich waren von uns nicht bloß kritiklos, in dem ehrlichen Glauben an ihre besondere Schönheit, mit nach Swinemünde herüber genommen worden, sondern durften auch nach damaliger Anschauung wirklich als etwas bemerkenswert Feines gelten. Denn es waren sogenannte »Schinkelsche« Möbel. Schinkel (Ruppiner Kind), in freundlichem Andenken an seine Vaterstadt, hatte der Tischlerfirma Möhring daselbst seine Muster und Vorbilder für Zimmereinrichtung zum Geschenk gemacht oder vielleicht auch nur zu besonderer Beachtung empfohlen, was im weiteren zur Folge hatte, daß jahrzehntelang das ganze offizielle Preußen aus der Werkstatt dieser sehr angesehenen Firma mit Mahagonimöbeln im Schinkelstil versehen wurde. Noch ganz vor kurzem, und zwar im Schlosse zu Quedlinburg, bin ich in einem mittelgroßen Zimmer, das Friedrich Wilhelm IV. bei seinen Besuchen daselbst mit Vorliebe zu bewohnen pflegte, solcher Schinkelschen Zimmereinrichtung wieder begegnet und schrak bei ihrem Anblicke fast zusammen, denn Trumeau, Sofa, Schränke, Stühle, alles sah genauso aus oder richtiger war nach Stil und Formen genau dasselbe wie das, was ich sechzig Jahre früher im Zimmer meiner Mutter gesehen und bewundert hatte. Freilich nur damals bewundert. Mir will es jetzt scheinen, daß Schinkel, dessen Größe trotz solcher Ausstellungen natürlich unangefochten bleibt, es seinerzeit nicht für nötig fand, an Herstellung dieser Dinge viel Arbeit und Phantasie zu setzen. Namentlich letztere verleugnet sich beinahe ganz.
        So viel über den Salon meiner Mutter. Er konnte passieren (mehr freilich war ihm nicht zuzugestehen), während es mein Vater, wenn auch sich selber unbewußt, bei Neueinrichtung seines eigenen kleinen Wohnzimmers ganz vorzüglich getroffen hatte. Hier war an Stelle des früheren Anstrichs alsbald eine braun und weiß gemusterte Tapete getreten, und der überall abgestoßene schwarze Ofen hatte einem völligen Neubau Platz gemacht. Dieser bestand aus graugrünen blanken Kacheln, über deren jede mindestens zwei, drei nach unten sich verdickende Tropfen roter Glasur flossen - also eigentlich ein Ornament, das in ein Schlachthaus gepaßt hätte. Trotz dieser äußersten Gewagtheit ließ sich, auf Farbenwirkung hin angesehn, doch von einer wirklichen Verschönerung sprechen. Eine ganz besondere Zierde des Zimmers aber waren seine vielen Bilder, meist in Pastell: Engelsköpfe, Musen und Horen im Tanz oder auch junge Mädchen, mit Tauben und Kaninchen spielend. Dazwischen hingen englische Stiche: die Quelle der Egeria, die Kaskaden von Tivoli und ähnliches, Buntdrucke, die meinem Gefühle nach dem meisten, was jetzt auf diesem Gebiete geleistet wird, erheblich überlegen waren. Zum mindesten wirkten sie vornehmer. Alt und einfach, aber gerade deshalb dem Trumeau samt Moiré-Sofa weit überlegen, waren denn auch ganz besonders die dem Zimmer einverleibten, meist aus der großväterlichen Erbschaft stammenden Möbel. An dem mittleren Fensterpfeiler, in einer Birkenmaserumrahmung, hing ein schmaler Spiegel, vor dem mein Vater seine Toilette zu machen pflegte. Für gewöhnlich bedeutete das nicht viel. Wenn aber Diner-Tag war, und das ereignete sich winters allwöchentlich wenigstens einmal, so stand er hier unter Vornahme der mannigfachsten Prozeduren oft eine halbe Stunde und länger. Das Anlegen eines vielgefalteten Jabots mit einem weißen Halstuch darüber, durch das dann eine Amethystnadel gesteckt wurde, bildete jedesmal den Schluß der Toilette, dem mit gleicher Regelmäßigkeit eine minder gefällige Manipulation vorausging. Er trug nämlich eine sogenannte »Tour«, die, wenn er sich für eine Gesellschaft zurechtmachte, jedesmal abgelöst, dann sorglich instand gesetzt und mit einer Gummilösung neu aufgeklebt wurde. Der Ablösungsprozeß war immer etwas ziemlich Schmerzhaftes, von einer komischen Grimasse Begleitetes, weshalb er es nicht gern unterließ, einen seiner Monologe daran anzuknüpfen. »Eigentlich ist es Unsinn. Die meisten haben einen ganz kahlen Kopf und finden sich drin. Nur ich, warum bäume ich mich unter Qualen dagegen auf? Es ist ein Opfer, das ich der Gesellschaft bringe.« Niemand aber war schließlich bereiter dazu als er, denn er freute sich auf jede Gesellschaft.
        In diesen Gesellschaften, auf deren Schilderung ich in einem anderen Kapitel zurückkomme, war er sehr beliebt, was mit seiner großen und liebenswürdigen Unterhaltungsgabe, ganz besonders aber mit einigen kleinen Sonderbarkeiten zusammenhing, die diese Unterhaltungsgabe begleiteten. Zu diesen Sonderbarkeiten zählte neben anderem auch eine ihm eigentümliche Vortragsweise, die bei Zitaten oder Namensnennungen immer höchst pathetisch war. Er sagte nicht gern »auf Erden«, sondern bevorzugte die Wendung »auf dieser sublunarischen Welt«, und wenn er das Wort »sort«, zum Beispiel in seinem Lieblingssatze: »Der und der wird sein sort machen«, betonte, so hätten ihn drei Franzosen um die Aussprache des »o« beneiden können. Auf gleicher Höhe, wenn nicht höher, stand sein »la mort sans phrase« oder wohl gar »la garde meurt et ne se rend pas«, woraus man übrigens nicht schließen wolle, daß dies, sosehr er an allem Französischen hing, aus Gallomanie geschehen sei. Was ihn dazu bestimmte, war lediglich ein Klangbedürfnis, und jede Sprache, die dazu mithalf, war ihm gleich willkommen. Es war eine Lust, ihm zuzuhören, wenn er beispielsweise den Titel eines damals erschienenen Romans: »Gustav Wasa oder das Blutbad zu Stockholm« aussprach, oder wenn er, sobald von Schill die Rede war, hinzusetzte: »Schill, der in den Straßen von Stralsund fiel.« Alles Alliterierende und Spondäische wurde von ihm bevorzugt. Er wiegte sich darauf. Am größten aber war er wahrscheinlich bei Nennung ihm unbekannter und deshalb falsch von ihm ausgesprochener Namen, weil er sich diese, durch Regeln und Korrektheit ganz uneingeengt, ganz nach seinem persönlichen Bedürfnis zurechtlegen konnte. Gerade damals (1830) war in den Nachrichten aus England viel von einem Marquis von Londonderry (Bruder des früheren Ministers Castlereagh) die Rede, welcher Name, weil er sich einfach aus London und Derry zusammensetzt, bei richtiger Aussprache nur ziemlich mäßig ins Ohr fällt; mein Vater aber, den Namen als eine große Einheit fassend, legte, statt ihm seine zuständigen zwei Akzente zu geben, einen einzigen mächtigen Akzent auf das »o« der drittletzten Silbe und erzeugte dadurch eine vollkommene Donnerwirkung. Natürlich erheiterte das die Swinemünder, die mit England und englischer Sprache sehr wohl Bescheid wußten.
        Und nun wieder zurück in das Wohnzimmer meines Vaters und zu seiner Einrichtung.
        An der Wand, rechts neben dem Spiegelpfeiler, stand der ebenfalls aus Birkenmaser gefertigte Schreibsekretär, dessen mit grünem Fries überzogene Klappe, wenn herabgelassen, ihm zugleich als Schreibepult diente. Die verbürgteste Eigenschaft derselben war aber die, daß sie, jedem Drucke nachgebend, beständig knarrte und quietschte. Mein Vater indessen ließ sich dadurch nicht stören und führte von hier aus seine gesamte Korrespondenz. Links neben ihm lagen die zu beantwortenden Briefe, denen eine Papierschere von ungewöhnlichem Gewicht als eine Art Briefbeschwerer diente. Nicht jeden Tag war Schreibetag, war dieser aber da, so wurde Nummer für Nummer vorgenommen, langsam und mit einer gewissen Künstlerfreude, denn er schrieb eine sehr hübsche Handschrift. Waren es Geldbriefe, so steigerte sich diese Freude noch sehr erheblich. Er hatte dann nicht bloß die Vorstellung von der Wichtigkeit des Akts, sondern des weiteren auch eine gewisse moralische Genugtuung, diesen Brief überhaupt noch abschicken und sich als ein Mann von Mitteln und »honnêteté« legitimieren zu können. Am deutlichsten trat diese Genugtuung hervor, wenn er, nach Erledigung der eigentlichen Schreiberei, bis zur Kuvertierung und Siegelung des Briefes gekommen war. Er hatte mehrere Petschafte für den Alltagsverkehr, jeder Geldbrief aber wurde mit einem besonders gut geschnittenen Petschaft gesiegelt, das er noch aus der Ruppiner Löwenapotheke mit in seine Swinemünder Adlerapotheke, so daß es eigentlich nicht mehr paßte, herübergenommen hatte. Das Reiben des Siegellacks, um die schwarzen Stellen auszutilgen, war eine Kunst, der er viel Fleiß widmete, und wenn dann die fünf Siegel mit dem kleinen Löwen darauf fertig waren, sah er sich das Ganze wiederholentlich an und äußerte seine Befriedigung. Er saß gern an diesem seinem Sekretär und hing mehr oder weniger an jedem Kasten und Schubfach desselben, ein besonders intimes Verhältnis aber unterhielt er zu einem hinter einem kleinen Säulen-Vortempel verborgenen Geheimfach, drin er, wenn ihm die Verhältnisse dies gerade gestatteten, sein Geld aufbewahrte. Lag es indessen ungünstiger, mit anderen Worten, war der Kasten leer, so hörte derselbe nicht auf, ein Gegenstand seiner beinahe liebkosenden Betrachtungen zu sein. Er entfernte dann den Vortempel, und in das Nichts, das sich dahinter auftat, mit einem gewissen humoristischen Ernst hineinlugend, hielt er eine seiner Ansprachen. Ich war oft dabei zugegen. »Sieh, mein Sohn, ich kann in diese dunkle Leere nicht ohne Bewegung blicken. Erst vor ein paar Tagen hab ich mir zusammengerechnet, wieviel da wohl schon gelegen hat, und es summte sich hoch auf und hatte was Tröstliches für mich.« All dies, während er drüber lachte, war doch auch wieder ganz ernsthaft gemeint; er richtete sich wirklich an der Vorstellung auf, was da alles schon mal gelegen hatte. Das Gascognische in ihm schlug immer wieder durch.
        Der Sekretär mit der quietschenden Klappe war, um es noch einmal zu sagen, ein Lieblingsplatz meines Vaters, aber der bevorzugteste war doch das große kissenreiche Schlafsofa, das zwischen dem Ofen mit den roten Glasurtropfen und der alten Gehäuse-Wanduhr stand. Diese Wanduhr ist jetzt in meinem Besitz. Mein Großvater und mein Vater sind bei ihrem Schlage gestorben, und ich will dasselbe tun. Über dem mit buntem Wollstoff überzogenen Sofa aber hing das noch nicht erwähnte Prachtstück aus der Erbschaft meines Großvaters, ein nach dem bekannten Bilde des Malers Cunningham gefertigter großer Kupferstich, der die Unterschrift führte: Frédéric le Grand retournant à Sanssouci après les manceuvres de Potsdam, accompagné de ses généraux. Wie oft habe ich vor diesem Bilde gestanden und dem alten Zieten unter seiner Husarenmütze ins Auge gesehen, vielleicht meinen Lieblingshelden in ihm vorahnend. Unter diesem Frédéric-le-Grand-Bilde aber und eingebettet in die Seegraskissen hielt mein Vater, der zu seinen vielen Prachteigenschaften auch die eines immer tüchtigen Schläfers hatte, seine Nachmittagsruhe, bei der er die Zeit nie ängstlich maß und sich oft erst erhob, wenn die Dunkelstunde schon da war. »Papa schläft wieder bis in die Nacht hinein.« Ich wurde dann, wenn gute Tage, das heißt Friedenszeiten waren, abgeschickt, ihn zu wecken, was ich immer gerne tat, weil er dabei nicht bloß von besonders guter Laune, sondern sogar von einer ihm sonst gar nicht eignen Zärtlichkeit gegen mich war. Ich mußte mich dann zu ihm setzen, und er plauderte mit mir, weit über meinen Kopf weg, über allerhand merkwürdige Sachen, die mich, vielleicht gerade deshalb, entzückten. Ich komme weiterhin auf diese wunderlichen und mir für mein Leben verbliebenen Gespräche zurück.
        Ja, das waren glückliche Stunden. Aber es kamen auch andere. Dann wurde ich nicht hineingeschickt, um ihn zu wecken, sondern ging aus eigenem Antriebe, um nach ihm zu sehen. Er lag dann auch ausgestreckt auf dem Sofa, aber auf seinen Arm gestützt, und sah durch das Gezweig eines vor dem Fenster stehenden schönen Nußbaumes in das über den Nachbarhäusern liegende Abendrot. Ein paar Fliegen summten um ihn her, sonst war alles still, vorausgesetzt, daß nicht gerade der Kohlenprovisor an seinem Mörser stand und stampfte. Wenn ich dann an das Sofa herantrat und seine Hand streichelte, sah ich, daß er geweint hatte. Dann wußte ich, daß wieder eine »große Szene« gewesen war, immer infolge von phantastischen Rechnereien und geschäftlichen Unglaublichkeiten, um derentwillen man ihm doch nie böse sein konnte. Denn er wußte das alles und gab seine Schwächen mit dem ihm eignen Freimut zu. Wenigstens später, wenn wir über alte Zeiten mit ihm redeten. Aber damals war das anders, und ich armes Kind stand, an der Tischdecke zupfend, verlegen neben ihm und sah tief erschüttert auf den großen, starken Mann, der seiner Bewegung nicht Herr werden konnte. Manches war Bitterkeit, noch mehr war Selbstanklage. Denn bis zu seiner letzten Lebensstunde verharrte er in Liebe und Verehrung zu der Frau, die unglücklich zu machen sein Schicksal war.

    Torna su

    Vierzehntes Kapitel

    Wie wir erzogen wurden - wie wir spielten in Haus und Hof

    Wie wir erzogen wurden? Ich habe diese Frage schon an mehr als einer Stelle gestreift und bin ihr namentlich im vorigen Kapitel, wo sichs um die Schule handelte, vergleichsweise nahegetreten. Indessen Erziehung und Schule, bei vielem was sie gemeinsam haben, sind doch auch wieder zweierlei; die Schule liegt draußen, Erziehung ist Innensache, Sache des Hauses, und vieles, ja das Beste, kann man nur aus der Hand der Eltern empfangen. »Aus der Hand der Eltern« ist nicht eigentlich das richtige Wort, wie die Eltern sind, wie sie durch ihr bloßes Dasein auf uns wirken - das entscheidet. Es gibt unbestritten ausgezeichnete Schul- und Erziehungsanstalten, die, mit Rücksicht auf Charakterausbildung, vielfach erheblich mehr leisten mögen als das elterliche Haus; aber in der Hauptsache bleibt doch ein Manko. Der Charakter mag gewinnen, der Mensch verliert. Es gibt so viele Dinge, die mit ihrem stillen und ungewollten, aber eben dadurch nur um so nachhaltigeren Einfluß erst den richtigen Menschen machen. Das große, mit Pflicht-, Ehr- und Rechtsbegriffen ausstaffierte Tugendexemplar ist unbedingt respektabel und kann einem sogar imponieren; trotzdem ist es nicht das Höchste. Liebe, Güte, die sich bis zur Schwachheit steigern dürfen, müssen hinzukommen und unausgesetzt darauf aus sein, die kalte Vortrefflichkeit zu verklären, sonst wird man all dieses Vortrefflichen nicht recht froh. Ich hatte das Glück, in meinen Kindheits- und Knabenjahren unter keinen fremden Erziehungsmeistern - denn die Hauslehrer bedeuteten nach dieser Seite hin sehr wenig - heranzuwachsen, und wenn ich hier noch einmal die Frage stelle: »Wie wurden wir erzogen«, so muß ich darauf antworten: »Gar nicht und - ausgezeichnet.« Legt man den Akzent auf die Menge, versteht man unter Erziehung ein fortgesetztes Aufpassen, Ermahnen und Verbessern, ein mit der Gerechtigkeitswaage beständig abgewogenes Lohnen und Strafen, so wurden wir gar nicht erzogen; versteht man aber unter Erziehung nichts weiter als »in guter Sitte ein gutes Beispiel geben« und im übrigen das Bestreben, einen jungen Baum bei kaum fühlbarer Anfestigung an einen Stab in reiner Luft frisch, fröhlich und frei aufwachsen zu lassen, so wurden wir ganz wundervoll erzogen. Und das kam daher: Meine Eltern hielten nicht bloß auf Hausanstand, worin sie Muster waren, sie waren auch beide von einer vorbildlichen Gesinnung, die Mutter unbedingt, der Vater mit Einschränkung, aber darin doch auch wieder uneingeschränkt, daß ihm jeder Mensch ein Mensch war. Noch weit über seine Bonhomie hinaus ging seine Humanität. Er war der Abgott armer Leute.
        So waren die zwei Persönlichkeiten, die wir tagaus, tagein vor Augen hatten, und wie man mit Recht gesagt hat, das Wichtigste für den physischen Menschen sei die Luft, drin er lebe, weil er aus ihr mit jedem Atemzuge Gesundheit oder Nichtgesundheit schöpfe, so ist für den moralischen Menschen das, was er von seinen Eltern sieht und hört, das Wichtigste, denn es ist nicht eine von glücklichen Zufällen abhängige, vielfach unfruchtbare Belehrung, sondern ein Etwas, das in jenen Jahren, wo die Seele sich bildet, von Minute zu Minute seine Wirkung übt.
        »Gar nicht erzogen und ausgezeichnet erzogen«, so sagte ich, und dies scheinbar sich Widersprechende paßte ganz vorzüglich zusammen. Es paßte zusammen und hätte noch besser gepaßt, wenn der Zustand des sich gar nicht oder doch nur wenig um uns Kümmerns ein permanenter gewesen und jederzeit in seiner vollen Reinheit aufrechterhalten worden wäre. Leider aber war dies nicht der Fall; vielmehr wurde durch dann und wann auftretende Versuche, mit den herkömmlichen pädagogischen Mitteln einzugreifen, unser normaler Nichterziehungsprozeß gestört, teils nutzlos, teils geradezu schädigend. Ich kann mich nämlich nicht entsinnen, jemals mit einem vollen Recht bestraft worden zu sein, entweder war es im Maß verfehlt oder ganz und gar ungerechtfertigt. Es traf sich dabei so sonderbar, daß alle diese Strafen durch meinen Vater vollzogen wurden, wobei jedoch zwei Gruppen unterschieden werden müssen, solche, zu denen der Vollziehende, mein Vater also, sich durch sich selber getrieben fühlte, und solche, zu denen er bloß abkommandiert wurde. Jene haben keinen großen Eindruck in meiner Seele hinterlassen, aber diese, die bloß auf Befehl erfolgten, schmerzen mich bis diesen Tag.
        Ich gebe ein paar Beispiele zur Charakterisierung der einen und der anderen Art und beginne mit den aus freiem Willen entsprossenen Strafen. Daß es überhaupt zu solchen kam, muß bei dem Charakter meines Vaters überraschen, denn er war ganz ausgesprochen für leben und leben lassen und jedenfalls der unstraflustigste Mann von der Welt. Daß er nun dem allen zum Trotz doch gelegentlich zu Strafvollstreckungen aus eigener Initiative schritt, hatte in ganz kleinen Nebenzügen seines Charakters seinen Grund, in etlichen Sonderbarkeiten, die freilich ganz zu ihm gehörten und erst recht eigentlich das aus ihm machten, was er war: ein Original. Unter diesen kleinen Nebenzügen waren zwei, für mich wenigstens, von ganz besonderer Bedeutung: Er war zunächst allemal außer sich, wenn eine Fensterscheibe neu eingesetzt werden mußte, und geriet zum zweiten, und zwar weit über den Fensterscheibenärger hinaus, in eine kleine Berserkerrage, wenn ihn das Riesendach seines Hauses, weil es wieder mal durchgeregnet hatte, zu Einlegung von ein paar neuen Dachziegeln zwang. An diesen beiden Eigentümlichkeiten ist der Frieden meiner Kinderjahre mehrfach gescheitert. Ich war ein eifriger Ballspieler und bevorzugte jene besondere Form des Spiels, wo sich einer meiner Kumpane mit dem Rücken an die Wand stellen und seine rechte Hand ausstrecken mußte. Nach dieser Hand zielte ich nun, und war ich dabei nicht geschickt genug, so flog der Ball gelegentlich in eine Scheibe. Danach kam dann das Strafgericht. Aber viel, viel schlimmere Folgen entsprangen mir aus meines Vaters Antipathie gegen die vorerwähnten Dachreparaturen. Zu meinen Hauptspielvergnügungen, ich komme weiterhin ausführlich darauf zurück, zählte das Umherklettern und Sich- Verstecken auf dem Bodengebälk. Ich saß oder hockte da, meist mit dem Rücken an einen Rauchfang gelehnt, und war glücklich, wenn die Jungen, die nach mir suchten, mich nicht finden konnten. Aber gerade diese Momente höchsten Triumphs waren es doch auch, die zuletzt wieder eine Gefahr heraufbeschworen. Wenn ich da durch Mauer- und Lattenwerk verborgen eine Stunde lang und oft noch länger gehockt hatte, kamen, wie sich denken läßt, kleine menschliche Schwachheiten über mich, denen ich sozusagen auf ordnungsmäßige Weise nicht nachgehen konnte, weil ich mich dadurch meinen unten auf mich wartenden Feinden überliefert haben würde. So denn zwischen zwei Bedrängnisse gestellt, kroch ich zuletzt aus meinem Halbversteck auf einen möglichst im Schatten liegenden Balken hinaus und nahm hier die Stellung ein, wie die berühmte kleine Brunnenfigur in Brüssel, mich zugleich derselben Beschäftigung unterziehend. Gleich danach verbarg ich mich wieder, so gut es ging, und wartete da, bis ich bei endlichem Dunkelwerden meine Chance wahrnehmen und unten am Treppenpfeiler unter dreimaligem Anschlag den Frei-Platz erreichen konnte. Das war dann jedesmal ein großer Sieg, aber eine schmerzliche Niederlage heftete sich nur allzu oft an meine Sohlen. Traf es sich nämlich so, daß mein Vater am anderen Tage sein Haus revidierte, vor allem aber die Böden, gegen die er immer ein besondres Mißtrauen unterhielt, so trat er alsbald sinnend an die Stelle, zu deren Häupten ich am Abend vorher gestanden, und hielt hier eine seiner herkömmlichen, zunächst gegen das verdammte Dach, das ihn noch aufzehren werde, gerichteten Ansprachen, bis ihm mit einem Male der Gedanke kam, »sollte vielleicht wieder...?« Und nun begann das Prozessualische. Wurde meine Schuld festgestellt, so traf mich eine Strafe, die die wegen Ball und Fensterscheibe mindestens dublierte.
        Solcher Art waren die Vollstreckungen aus der freien Initiative meines Vaters, kleine Exekutionen, die vielleicht auch hätten wegbleiben können, aber gegen die ich, wie schon gesagt, in meinem Gemüte nicht länger murre. Sehr anders verhielt es sich mit den Strafen, an die mein Papa wie in Ausführung eines richterlichen Befehls heran mußte. Diese waren schmerzlich und nachhaltig. Eine davon ist mir besonders stark im Gedächtnis geblieben.
        Es war schon im Oktober, ein heller, wundervoller Tag, und wir spielten in unserem Garten ein von uns selbst erfundenes, aber freilich nur einmal gespieltes Spiel: »Bademeister und Badegast«. An der Gartentür standen Tisch und Stuhl, auf welch letztrem der Bademeister saß und gegen gesiegelte Marken Zutritt gewährte. War diese Marke gezahlt, so schritt der Badegast über eine auf Holzkloben liegende Bretterlage hin und kam schließlich an den Badeplatz. Dies war ein vorher gegrabenes riesiges Loch von wenigstens vier Fuß im Quadrat und ebenso tief. Das Wasser fand sich von selbst, denn es war Grundwasser, und in diesem Grundwasser stapften wir nun, nach Aufkrempelung unserer Hosen und wie in Vorahnung der Kneippschen Heilmethode, glückselig herum. Aber nicht allzu lange. Meine Mutter hatte vom Wohnzimmer meines Vaters aus diesen Badejubel beobachtet, und aus Gründen, die mir bis diesen Augenblick ein Geheimnis sind, entschied sie sich dahin, daß hier ein Exempel statuiert werden müsse. Hätte sie sich der Ausführung dieses Entscheids nun selber unterzogen, so wäre die Sache nicht schlimm gewesen, die Hand einer Mutter, die rasch dazwischenfährt, tut nicht allzu weh; es ist ein Frühlingsgewitter, und kaum hat es eingeschlagen, so ist auch die Sonne schon wieder da. Leider jedoch hatte meine Mutter, und zwar schon Jahr und Tag vor Eröffnung dieser »privaten Badesaison«, den Entschluß gefaßt, nur immer Strafmandate zu erlassen, die Ausführung aber meinem Vater wie einem dafür Angestellten zuzuweisen. Das Heranreifen eines solchen Entschlusses in ihr kann ich mir nur so erklären, daß sie davon ausging, mein sehr zur Bequemlichkeit neigender Vater sei eigentlich »für gar nichts da«, und daß sie mit dem allen den Zweck verband, ihn auf den Weg des Pflichtmäßigen hinüberleiten zu wollen. Treff ich es damit, so muß ich sagen, ich halte das von ihr eingeschlagene Verfahren für falsch. Wer die Untat entdeckt und als Untat empfindet, der muß auch auf der Stelle Richter und Vollzieher in einer Person sein. Vergeht aber eine halbe Stunde oder eine ganze, und muß nun ein vom Frühschoppen heimkehrender Vater, der eigentlich sagen möchte: »Seid umschlungen, Millionen«, muß dieser unglückselige Vater auf einen Bericht und eine sich daran knüpfende Pflichtermahnung hin den Stock oder gar die Reitpeitsche von seinem verstaubten Schreibpult herunternehmen, um nun den alten König von Sparta zu spielen, so ist das eine sehr traurige Situation, traurig für den mit der Exekution Beauftragten und traurig für den, an dem sich der Auftrag vollzieht. Kurz und gut, ich wurde ganz gründlich ins Gebet genommen, und als ich aus der Marter heraus war und total verbockt (ein Zustand, den ich sonst nie gekannt habe) in unserer schüttgelben Kinderstube mit dem schwarzen Ofen und dem Alten-Geißler- Stuhl auf und ab ging, erschien meine Mutter und forderte von mir, daß ich nun auch noch hinübergehen und meinem Vater abbitten solle. Das war mir über den Spaß, und ich weigerte mich. Schließlich aber redete sie mir freundlich zu, und ich tat es. Ich glaube, sie fühlte in ihrem Gerechtigkeitssinne, daß sie viel zu weit gegangen war, und weil ihr mein Vater, dem die Sache gewiß geradezu gräßlich war, schon ähnliches gesagt haben mochte, so lag ihr daran, alles baldmöglichst wieder beglichen zu sehn.
        All das waren so Proben aus dem verunglückten Detail der Erziehung oder, ich könnte auch sagen, unerwünschte Leistungen auf dem von beschränkten Leuten so recht eigentlich als »Erziehung« angesehenen Gebiete, weil beschränkte Leute von der Erziehungsvorstellung die Vorstellung der Strafe nicht trennen können. Glücklicherweise kam es zu solchen Szenen nur sehr ausnahmsweise, was ich hier nochmals von ganzem Herzen preise. Regel war, unsere Kreise nicht zu stören, und wenn ich nicht in die Schule ging oder gerade Schillersche Balladen lernen mußte, so gehörte meine Zeit der Beschäftigung nach freier Wahl an, der Ungebundenheit, dem Spiel.

    Mein Vater hing dem Spiel nach; ich auch. Aber während seine Spiele L'hombre, Whist und Boston hießen, des edlen Pharaos ganz zu geschweigen, hießen die meinigen, um nur ein paar zu nennen, Klinker und Knut und Anschlag und Versteck. Kartenspiel, wie's auch Kinder spielen, war mir immer höchst langweilig, wogegen ich all das, was ich meine Spiele nannte, mit einer Lust und Leidenschaft spielte, die weit über die Kartenspiellust meines Vaters hinausging. Ich war der geborne kleine Akrobat. Von Schulgerechtem konnte dabei keine Rede sein; aber in allem, was einem auf diesem Gebiete, wenn man leidlich gesund ist, von Mutter Natur als Voranlage mitgegeben wird, war ich sehr glücklich ausgestattet. Ich war stärker und gewandter als die Schul- und Straßenjungen, mit denen ich anfänglich (später änderte sichs) in Berührung kam, und diese Kraft und Gewandheit zu zeigen, war ich in so hohem Maße beflissen, daß ich, im Rückblick auf meine Kinderjahre, diese ganze Zeit nicht als eine Schul- und Lernezeit voll Gequält- und Gedrilltwerdens, sondern als eine Zeit unausgesetzten Spielens vor Augen habe, so sehr überwogen die Spielstunden alles andere, sowohl dem Zeitmaße wie dem Interesse nach.
        Noch einmal, es war zumeist meine natürliche Veranlagung für das Turnerische, was mich die gewöhnlichen Knabenspiele mit so viel Lust und Liebe spielen ließ, und ich werde davon in diesem und den folgenden Kapiteln noch mancherlei zu berichten haben. Aber in jenem wohlbekannten Widerspruche, der nun mal, einem rätselhaften Naturgesetze folgend, unser Leben und unsere Neigungen durchzieht, in diesem auch bei mir zutage tretenden Widerspruche traf es sich so, daß meine zwei leidenschaftlichsten Spielbeschäftigungen in dem einen Falle gar nichts und in dem andern sehr wenig mit Akrobatik und halsbrecherischen Kunststücken zu tun hatten. Denn diese zwei leidenschaftlichsten Beschäftigungen waren: die Buchbinderei (richtiger noch, bloße Papparbeit) und das Versteckspielen.
        Die Papparbeit! Mir ganz unerfindlich jetzt, wie mich diese langweiligste Beschäftigung durch Jahre hin so ganz in Anspruch nehmen konnte, daß ich mindestens ein Drittel meiner freien Zeit damit verbracht und mindestens zwei Drittel meines Taschengeldes für Pappe, marmoriertes Papier und Goldborten ausgegeben habe. Nun darf ich zwar hinzusetzen, daß ich den Kleisterpinsel im Dienst einer höheren Idee schwang und daß der meiner Leimtopfarbeit dienende Stubenwinkel eine Art Schutzwaffenfabrik war, wo meine Völker, ich komme weiterhin darauf zurück, wehrhaft gemacht und mit Schilden und Brustharnischen ausgerüstet wurden; aber wiewohl das alles zutrifft, so kann ich doch das Entschuldigungsmoment, das darin liegt, vorm Richterstuhl der Wahrheit kaum gelten lassen, weil ich deutlich fühle, daß ich, auch wenn die Volksausrüstungsfrage mir fern gelegen hätte, dennoch dieselbe Klebebeschäftigung geübt haben würde. Dann freilich wahrscheinlich als Domarchitekt und Kathedralenbauer in Pappe. Ich kann es mir nur so erklären, daß sich ein gewisser Gestaltungsdrang darin aussprach. Es prickelte mich, etwas entstehen zu sehen. Aber vielleicht ist diese Erklärung auch noch zu schmeichelhaft.
        Ähnlich ratlos steh ich der Versteckspielpassion gegenüber. Denn wenn auch die darauf verwendete Zeit - weil ich die sechs, acht Jungen, die mich aufsuchen mußten, nicht immer zur Hand hatte - viel geringer war, so war doch die Leidenschaft dafür noch viel, viel größer, und am größten da, wo sie am unverständlichsten war. Das schon vorgeschilderte Herumklettern in dem in tiefem Schatten liegenden Sparrenwerk des Daches, auch wenn ich dabei hinter einem Rauchfang oder Lattenverschlag auf Augenblicke nach Schutz und Deckung suchen mußte, war kein eigentliches Versteckspiel, trotzdem etwas davon mit vorkam; eigentliches Versteckspiel nach meiner damaligen Anschauung war etwas viel Großartigeres, Poetisch-Phantastischeres und jedenfalls gleichbedeutend mit einem völligen stundenlangen Verschwinden, wozu der riesige Heuboden, den wir auf unserem Hofe hatten, eine nicht zu übertreffende Gelegenheit bot. Bis unter den First eines langen Stallgebäudes lag das Heu dicht aufgeschichtet, und in die tiefen und engen Löcher, die sich hier und da zwischen den Dachbalken und der Heumasse befanden, ließ ich mich leise hinabgleiten. Da saß ich dann endlos, unter beständigem Herzklopfen, vor Enge und Schwüle beinahe erstickend und immer nur durch die glückselige Vorstellung aufrechterhalten: »Und wenn sie dich suchen bis an den Jüngsten Tag, sie finden dich nicht.« Und sie fanden mich auch wirklich nicht, gaben zuletzt alles Suchen auf, brachen das Spiel ab und gingen in die Küche, wo sie, Schemel und Fußbänke an den Herd rückend, unter Verwünschungen gegen mich ihr Vesperbrot verzehrten. Ich aber, wenn ich an dem Stillwerden in Hof und Garten merkte, daß man die Jagd auf mich aufgegeben hatte, wand mich aus meinem Heuloche wieder heraus und erschien nun unter ihnen mit dem Ausdruck höchster Geringschätzung. Ich tue wieder die Frage, worin wurzelt da das Glück?
        Begreiflicher als die Versteckspielfreude war die Lust am Klettern, wozu neben anderem die dicht vor unserem Hause stehenden Kastanienbäume mich geradezu herausforderten. Auf den unteren Ästen sich einlogieren, das konnte jeder; aber von der höchsten Spitze her einen blühenden Zweig herunterholen, das war ein lohnender Ehrgeiz, dem ich beinahe mal zum Opfer fiel. Unter dem Baume stand der alte Pietzker, unser Nachbar, ein Holländer, der einen Handel mit Edamer Käse trieb und nach Art der französischen Bauern immer in einer weißen Zipfelmütze einherging. Er war mein guter Freund und rief mir in den Baum hinauf zu, ich sollte mich in acht nehmen, Kastanienholz bräche leicht.
        Es war gut gemeint, aber kam zu spät. Denn im selben Augenblicke gab es auch schon ein Knicken und Knacken, und ganz zuletzt noch einmal auf den Hauptast des Baumes aufschlagend, stürzte ich von oben herab auf den steinharten Boden, steinhart, weil zehn Fuß breit um das Haus herum Müll und Ziegelschutt aufgeschüttet war. Ich lag da für tot und rührte mich nicht, der Umstand indes, daß das viele kleine Gezweige zunächst die Vehemenz des Sturzes gemindert hatte, hatte mich doch gerettet, und nach kurzer Zeit schlug ich die Augen auf, und Pietzker trug mich in die Apotheke, wo man mir mit Salmiakgeist weiter aufzuhelfen trachtete. Geschah auch. Als ich aber über Rücken- und Rippenschmerzen klagte, sagte Pietzker: »Da hilft bloß Mierenspiritus.« Und ehe ich »ja oder nein« sagen konnte, wurde ich damit übergossen. Ich hatte immer noch Schmerzen, war jedoch wieder beweglich geworden und konnte, wenn auch freilich nur mit Anstrengung, beim Abendbrot, bei dem die Eltern glücklicherweise fehlten, erscheinen. Es war gerade die schon in einem früheren Kapitel erwähnte Milchsuppenzeit, was an und für sich gut paßte. Zugleich aber war es auch der Tag, wo aus der herkömmlichen Folge von Reis, Grieß, Hirse, gerade die Hirse an der Reihe war, und mit einem Male merkend, daß sich, wohl in weiterer Folge meines Sturzes, die Vorderhälfte des einen Backzahns ablöste, fühlte ich auch schon, wie sich ein Hirsekorn in die offene Stelle einsenkte. Unter furchtbaren Schmerzen verbrachte ich die Nacht und war am andern Tag ein Bild des Jammers. Dazu kam noch die beständige Furcht, ich könnte wegen Kletterns, das natürlich verboten war, abgestraft werden. Das unterblieb aber. Mein Vater trat vielmehr, als ich unglücklich dasaß, zu mir heran und sagte: »Pietzker hat mir alles erzählt. Du wirst noch den Hals brechen. Wo tuts denn weh?«
        Er hatte geglaubt, daß ich auf Kopf und Rücken zeigen würde, ich zeigte aber auf den Zahn und er zählte ihm, daß die Vorderhälfte abgebrochen sei.

        »Nun, das ist nicht schlimm. Da muß die andere Hälfte auch raus. Dann bist du's los. Weh tut es. Aber das ist die Strafe.«

    Torna su

    Sechzehntes Kapitel

    Vierzig Jahre später. Ein Intermezzo

    Wie der Leser schon aus der Kapitelüberschrift entnehmen wird, habe ich vor, in dem unmittelbar Nachstehenden mich weit jenseits der hier zu schildernden Swinemünder Tage niederzulassen, welches Vorhaben mit dem Wunsche zusammenhängt, das Charakterbild meines Vaters nach Möglichkeit zu vervollständigen, will sagen, nach oben hin abzurunden. Denn wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich.
        In dem bis hierher dem Leser vorgeführten und zugleich den eigentlichen Inhalt des Buches ausmachenden Zeitabschnitte, nach dem ich denn auch das Ganze »Meine Kinderjahre« betitelt habe, war mein Vater noch sehr jung, wenig über dreißig, und stand im Leben und in Irrtümern; in seinen alten Tagen aber - und um eben deshalb greif ich hier in einem Exkurse so weit vor - waren des Lebens Irrtümer von ihm abgefallen, und je bescheidener sich im Laufe der Jahre seine Verhältnisse gestaltet hatten, desto gütiger und persönlich anspruchsloser war er geworden, immer bereit, aus seiner eigenen bedrückten Lage heraus noch nach Möglichkeit zu helfen. In Klagen sich zu ergehen, fiel ihm nicht ein, noch weniger in Anklagen (höchstens mal gegen sich selbst), und dem Leben abgewandt, seinen Tod ruhig erwartend, verbrachte er seine letzten Tage comme philosophe.
        Ich besuchte ihn alle Jahr einmal, und von meinem letzten Besuche bei ihm, der in den Sommer 67 fiel, möchte ich hier erzählen.
        Er wohnte damals schon zehn oder zwölf Jahre lang in Nähe von Freienwalde, und zwar in einer an der alten Oder gelegenen Schifferkolonie, die den Namen »Schiffmühle« führte und ein Anhängsel des Dorfes Neu-Tornow war. Vereinzelte Häuser lagen da in großen Abständen voneinander an dem träg vorüberschleichenden und von gelben und weißen Mummeln überwachsenen Flusse hin, während sich unmittelbar hinter der Häuserreihe ziemlich hohe, hoch oben mit einem Fichtenwalde besetzte Sandberge zogen. Genau da, wo eine prächtige alte Holzbrücke den von Freienwalde her heranführenden Dammweg auf die Neu-Tornowsche Flußseite fortsetzte, stand das Haus meines Vaters. Von welchen Erträgen er es erstanden hatte, weiß ich bis diesen Tag nicht, denn als er es kaufte, war er nicht eigentlich mehr ein Mann der Häuserkaufmöglichkeiten, wenn das erstandene Haus auch freilich nur ein bescheidenes Häuschen war. Wie's aber auch damit stehen mochte, er nannte dies Haus sein eigen, und »Klein, aber mein«, diese hübsche Inschrift, die das Prinz-Friedrich-Karlsche Jagdschloß Dreilinden ziert, hätt auch er diesem seinem Häuschen geben können. Er bewohnte dasselbe mit einer Haushälterin von mittleren Jahren, die nach dem Satze lebte: »Selig sind die Einfältigen«, aber einen etwas weitgehenden Gebrauch davon machte. Seine Trauer darüber war humoristisch rührend, denn das Bedürfnis nach Aussprache blieb ihm bis zuletzt. Glücklicherweise hatte er sich schon vorher an Selbstgespräche gewöhnt. Er dachte laut; das war immer seine Aushilfe.
        Ich hatte mich wie gewöhnlich bei ihm angemeldet, machte zunächst die reizende Fahrt bis Eberswalde per Bahn, dann die reizendere bis Freienwalde selbst in einem offenen Wagen und schritt nun auf einem von alten Weiden eingefaßten Damm auf Schiffmühle zu, dessen blanke rote Dächer ich gleich beim Heraustreten aus der Stadt vor Augen hatte. Der Weg war nicht weiter als eine gute halbe Stunde, Rapsfelder links und rechts, einzelne mit Storchnestern besetzte Gehöfte weit über die Niederung hin verstreut und, als Abschluß des Bildes, jene schon erwähnte, jenseits der alten Oder ansteigende Reihe von Sandbergen. Als ich bis in Nähe der Brücke war, war natürlich auch die Frage da: »Wie wirst du den Alten finden?« Aber eh ich mir noch darauf Antwort geben konnte, sah ich ihn auch schon. Er hatte von der Giebelstube seines Hauses her mein Herankommen beobachtet, und als ich eben meinen Fuß auf die vorderste Brückenbohle setzen wollte, stand er auch schon an der anderen Seite der Brücke, mit seiner linken Hand zu mir herüberwinkend. Er hatte sich, seit er in Einsamkeit lebte, daran gewöhnt, die Kostümfrage etwas obenhin zu behandeln, und so war ich nicht überrascht, ihn an diesem warmen Junitage bis an eine äußerste Grenze freiheitlicher Behandlung gelangt zu sehen. Er trug graue Leinwandhosen und einen dito Drillichrock, unter dem, denn er haßte alles Zuknöpfen, ein Nachthemd mit umgeklapptem Kragen sichtbar wurde, was alles unbedingt ans Turnerische gemahnt hätte, wenn es weißer gewesen wäre. Auf dem Kopfe saß ein Käpsel, grün mit einer schwarzen Ranke darum, und das einzige, was auf vergangene bessere Zeiten deutete, war ein wunderschönes Bambusrohr mit einem Elfenbeinknopf oben und einer unverhältnismäßig langen Metallzwinge, so daß man eigentlich einen »poignard« darunter vermuten mußte. Was aber nicht zutraf.
        Jetzt hatten wir uns und gaben uns einen Kuß auf die linke Backe. »Nun, das ist recht, daß du da bist. Was macht deine Frau? Und die Kinder?« Er wartete aber keine Antwort ab, denn solche Familienfragen, wenn es nicht gleich ans Sterben ging, interessierten ihn wenig, und so fuhr er dann fort: »Es ist das Leben eines Einsiedlers, das ich führe, ja, man könnte schon von Anachoreten sprechen, die ich mir, übrigens vielleicht mit Unrecht, als gesteigerte Einsiedler denke. Fremdwörter haben fast immer was Gesteigertes. Nun, wir reden noch davon. Ein Glück, daß du so gutes Wetter getroffen hast, das reine Hohenzollernwetter. Du schreibst ja auch so viel über die Hohenzollern und nimmst drum vielleicht an ihrem Wetter teil; es lohnt sich alles. Ich für meine Person halte an Napoleon fest; er war das größere Genie. Weißt du denn, daß Prinz Wilhelm - ich meine den alten, das heißt den ganz alten, der immer die Schwedter-Dragoner-Uniform trug, hellblau, mit schwarzem Kragen, und soll ein aufrichtig frommer Mann gewesen sein, denn auf die Aufrichtigkeit kommt es an -, weißt du denn, daß Prinz Wilhelm immer die Büste Napoleons vor Augen hatte? Noch dazu auf seinem Schreibtisch.«
        »Ja, ich weiß es, Papa; du hast mir öfter davon erzählt.«
        »Öfter davon erzählt«, wiederholte er. »Ja, das wird wohl richtig sein. Ich lerne nichts mehr dazu, habe bloß immer noch die alten Geschichten, aber eigentlich sind das die besten. Entsinnst du dich noch? Lannes und Latour d'Auvergne und Michel Ney. Ja, mein Freund Michel Ney, der kommt mir jetzt wieder öfter in den Sinn, und ich seh ihn dann immer, wie sie ihn an die Gartenmauer stellten - in dem öden und einsamen Luxembourg-Garten, und war gerad ein recht klatschiges Dezemberwetter -, und wie dann der Offizier, der das Peloton kommandierte, noch einmal das Kriegsgerichtsurteil vorlesen wollte mit all den Prinzen- und Herzogstiteln, wie da mein Freund Ney abwehrte und unterbrach und mit seiner tiefen Stimme sagte: 'Pourquoi tous ces titres?... Michel Ney... rien de plus... et bientôt un peu de poudre.' Und dann fielen die Schüsse. Ja, 'bald bloß noch ein bißchen Staub'. Eigentlich paßt es auf jeden und zu jeder Stunde. Und wenn man nun gar einundsiebzig is...«
        »Ach, Papa, daran mußt du nicht denken.«
        »Ich mag auch nicht, der Tod ist etwas Grusliges. Aber man mag wollen oder nicht, er meldet sich, er ist um einen rum, er ist da. Aber lassen wir den Tod. Tod ist ein schlechtes Wort, wenn man eben in ein Haus eintreten will. Und da kommt ja auch Luise, dich zu begrüßen. Sei nur recht freundlich, auch wenn sie was Dummes sagt. Und darauf kannst du dich verlassen.«
        Unter diesen Worten und während mein Vater vom Flur aus, in den wir grad eingetreten waren, treppauf stieg, um sich in seiner äußeren Erscheinung ein ganz klein wenig zu verbessern, war die eben angekündigte Luise wirklich auf mich zugekommen und erzählte mir, in übrigens durchaus verständiger Weise, daß sich der Papa schon seit zwei Tagen auf meinen Besuch gefreut habe. Natürlich, er habe ja sonst nichts; sie höre zwar immer zu, wenn er was sage, aber sie sei doch nur dumm.
        »Ach, Luise, reden Sie doch nicht so was. Das wird ja so schlimm nicht sein. Jeder ist klug, und jeder ist dumm. Und ich wette, Sie haben wieder einen Eierkuchen gebacken.«
        »Hab ich auch.«
        »Nun sehn Sie. Was heißt da klug oder nicht klug. Papa kann froh sein, daß er Sie hat.«
        »Bin ich auch«, sagte dieser, der, während wir so sprachen, in einem aus einer weit zurückliegenden Zeit stammenden und deshalb längst zu eng gewordenen Rocke von seiner Giebelstube her wieder nach unten kam. »Bin ich auch. Luise ist eine gute Person. Mitunter allerdings schrecklich; aber bei Lichte besehn, ist alles mal schrecklich, und es wäre ungerecht, wenn ich gerade von Luise den Ausnahmefall verlangen wollte.«
        Luise selbst hatte sich inzwischen wieder in ihre Küche zurückgezogen, während mein Vater und ich in dem wundervoll kühlen Hausflur auf und ab schritten. Licht und Schatten spielten dabei um uns her. Die Türen standen auf und gestatteten einen Einblick in das ganze Hausgewese. Zu jeder Seite lagen zwei Räume, rechts die meines Papas, links Luisens Stube und Küche. »Laß uns hier eintreten«, sagte mein Vater und führte mich in seine nach dem Hofe hinaus gelegene Schlafstube, drin sich außer einem sehr breiten Fenster auch noch ein ganz kleines Extrafenster befand, ein bloßes Kuckloch, das immer aufstand und vor dem ein Gardinchen im Winde wehte.
        »Da seh ich wieder das Kuckloch. Und steht auch wieder auf. Erkältest du dich nicht?«
        »Nein, mein Jung. Und jedenfalls, es läßt sich nicht anders tun. Wenn ich das Fensterchen zumache, krieg ich keine Luft. Und nachts... Gefahr is nicht... reinstehlen kann sich keiner; solche dünne Kerle gibt es gar nicht. Und dann hab ich ja auch die Pistole.«
        »Ist es immer noch die alte, die nicht losgeht?«
        »Natürlich. Auf das Losgehn kommt es bei Pistolen auch gar nicht an. Die moralische Wirkung entscheidet dabei. Das Moralische entscheidet überhaupt.«
        »Meinst du?«
        »Ja, das mein ich. Ich bin erst spät dahintergekommen, aber besser spät als gar nicht. Und nun komm in die Vorderstube. Ich merke, Luise hat schon aufgetragen, und wenn mich meine Sinne nicht täuschen, übrigens bin ich auch ein bißchen eingeweiht, so ist es eine geschmorte Kalbsbrust. Erster Gang. Ißt du so was?«
        »Gewiß eß ich so was. Kalbsbrust ist ja das Allerfeinste, besonders, was so dicht dran sitzt.«
        »Ganz mein Fall. Es ist doch merkwürdig, wie sich so alles forterbt. Ich meine jetzt nicht im Großen, da ist es am Ende nicht so merkwürdig. Aber so im Kleinen. Kalbsbrust ist doch am Ende was Kleines.«
        »Ja und nein.«
        »Das ist recht. Daran erkenn ich dich auch. Man kann nicht so ohne weiteres sagen, Kalbsbrust sei was Kleines. Und nun wollen wir anstoßen. Es ist noch Rotwein aus Stettin; die Stettiner manschen am besten. Was Echtes gibt es überhaupt nicht mehr. Weißt du noch den alten Flemming mit seinem echten Bordeaux? Er nannt ihn immer bloß Medoc; ihm so ohne weiteres einen vollfranzösischen Zunamen zu geben, so weit wollt er doch nicht gehn. Medoc ist übrigens ein wirklicher Ort, freilich sehr klein, höchstens 1400 Einwohner... Ja, der alte Flemming, ein vorzüglicher Herr. Ist nun auch schon zur großen Armee. Alles marschiert ab... Na, ewig kann es nicht dauern.«
        Und nun stießen wir an, und ich sah, daß es wieder die schönen Pokalgläser aus der alten Swinemünder Zeit waren.
        »Sind das nicht...«
        »Gewiß. Und ich freue mich, daß du sie wiedererkennst. Zwei sind nur noch davon da, aber mehr als zwei brauch ich auch nicht, denn mehr als einen Gast kann ich in dieser meiner Hütte nicht beherbergen. Und am liebsten ist es mir, wenn du kommst. Und nun krame mal aus. Was sagst du zur Weltausstellung? Die Franzosen machen so was doch immer am besten. Und dazu die Rede von dem Louis Napoleon! Er hat doch so was von dem Alten. Und hat auch darin ganz recht, daß im Leben, das heißt im Leben eines Volkes, alles untereinander zusammenhängt und übereinstimmt, und daß da, wo es die besten Generäle gibt, es auch die besten Maler gibt, oder die besten Schneider und Schuster. Und umgekehrt.«
        »Ich habe wenig davon gelesen, und ich kann mich nicht recht entsinnen.«
        »Immer dieselbe Geschichte«, lachte mein Vater. »Nicht gelesen. Und wenn ich nun bedenke, daß du ein Zeitungsmensch bist! Da denkt man, die hören das Gras wachsen, und jedesmal, wenn du mich besuchst, seh ich, daß ich besser beschlagen bin als du. Überhaupt, wie's in der Welt aussieht, davon hab ich doch immer am meisten gewußt. So war es schon, als ich noch jung war, in Ruppin und in Swinemünde. Die Swinemünder, na, das ging noch; solch flotter, fideler Schiffsreeder, der mal nach London und mal nach Kopenhagen fährt, na, der hat doch immer ein bißchen Wind weg; aber die Ruppiner Schulprofessoren... es hat mich mitunter geniert, wieviel besser ich alles wußte. Natürlich Horaz und die unregelmäßigen Verba ausgenommen. Da war z.B. der alte Starke. Dessen Steckenpferd war Aristoteles, und was Aristoteles lange vergessen hatte, das wußte Starke. Aber das, worauf es ankommt, das wußt er nicht. Ich laß es mir nicht abstreiten, unsere Schule geht falsche Wege; die Menschen lernen nicht das, was sie lernen sollten. Ney ist doch interessanter als Pelopidas. Und es kommt auch noch... Aber da bringt uns Luise die Omelette. Nimm nur hier die helle Hälfte, die andere Hälfte ist etwas verbrannt. Und wenn wir hier fertig sind, dann will ich dir meinen Hof zeigen und meinen Steinbruch. Und dann machen wir einen Spaziergang auf Neuenhagen zu. Bei so schönem Wetter kann ich marschieren, ohne große Beschwerde.«
        So ging es noch eine Weile weiter, und dann standen wir auf, um nach seinem Programm alles in Augenschein zu nehmen. Zuerst also den Hof. Es sah alles ziemlich kahl aus, und ich bemerkte zunächst bloß einen Sägebock mit einer Buchenholzklobe darauf, daneben Säge und Axt. Er wies drauf hin und sagte: »Du weißt, alte Passion und ersetzt mir nach wie vor die Bewegung... Aber nun komm hierher... Du hörst sie wohl schon.«
        Und unter diesen Worten schritt er mit mir auf einen niedrigen Stall zu und schlug hier eine Klapptür auf, hinter der ich nun zwei Schweine ihre Köpfe vorstrecken sah. »Was sagst du dazu? Prächtige Kerls. Wenn sie mich hören, werden sie wie wild vor Vergnügen und könnens nicht abwarten.«
        »Du wirst sie wohl verwöhnen. Mama und die Schrödter sagten auch immer, du verfuttertest bei den Biestern mehr, als sie nachher einbrächten.«
        »Ja, die Schrödter; eine gute treue Seele. Mich konnte sie nicht recht leiden, weil ich die besten Bratenstücke mitunter an Peter und Petrine gab, weißt du noch?«
        Ich nickte.
        »Ja, damals waren es die Katzen. Etwas muß der Mensch haben. Nun sind es die da... Na, gleich, gleich; beruhigt euch nur.«
        Und dabei bückte er sich und fing an, seine Lieblinge zu krauen. Er erzählte mir dann noch allerhand von der Klugheit dieser Tiere, deren innerer Bau übrigens, wie jetzt wissenschaftlich feststehe, dem des Menschen am nächsten komme. »Sus scrofa und Homo sapiens - es kann einem doch zu denken geben.«
        Und nun nahm er mich unterm Arm und ging mit mir auf eine mitten im Hofzaun angebrachte Gittertür zu, hinter der ein schmaler Zickzackweg den Sandberg hinaufführte. Links und rechts waren tiefe Löcher gegraben, in denen Feldsteine von beträchtlicher Größe mit ihrer Oberhälfte sichtbar wurden.
        »Läßt du die ausgraben, Papa?«
        »Versteht sich, das ist jetzt eine Haupteinnahme von mir; ich kümmere mich dabei um nichts, ich gebe bloß die Erlaubnis, und dann kommen die Kerls und buddeln solchen Stein aus, das heißt viele Steine, und schaffen sie dann in ihren Kahn, und ich kriege mein Geld. Gott segne den Chausseebau. Daß das Geld im Boden liegt, ist doch wahr, und wenn auch weiter nichts dabei herauskommt als eine Ladung Steine.«
        Dabei waren wir den Zickzackweg hinauf und traten in den schon mehrerwähnten Fichtenwald ein, der den ganzen Bergrücken, eigentlich schon ein Plateau, überdeckte. Ein Säuseln ging durch die Kronen, und ich sagte, während ich in die Höh blickte, so vor mich hin: »Und in Poseidons Fichtenhain Tritt er mit frommem Schauder ein.«
        Er klopfte mich sofort zärtlich auf die Schulter, weil er herausempfand, daß ich die zwei Zeilen bloß ihm zuliebe zitierte. »Ja, das war immer meine Lieblingsstelle. Für gewöhnlich lernten wir damals, als ich noch jeden Morgen von Schloß Niederschönhausen ins Graue Kloster mußte, nur 'Johann den muntern Seifensieder' und 'Gott grüß Euch, Alter, schmeckt das Pfeifchen', und Schiller war damals noch nicht halb so berühmt wie jetzt und noch nicht sozusagen unter den Heroen. Aber 'Die Kraniche des Ibykus' habe ich doch damals schon gelernt und ist mir auch sitzen geblieben. Es muß so was drin sein. Hast du denn auch alles behalten von früher?«
        »Na, es geht. Eigentlich ist es merkwürdig, daß noch so viel sitzen bleibt.«
        »Da hast du recht.«
        Und nun traten wir aus dem Wald auf eine breite gradlinige Chaussee heraus, die von Ebereschenbäumen eingefaßt war.
        »Das ist ja eine wundervolle Chaussee für solche Gegend«, sagte ich. »Wo läuft die denn hin?«
        »Die läuft, glaube ich, auf Oderberg zu; aber zunächst läuft sie hier bis Neuenhagen.«
        »Neuenhagen. Du nanntest es schon vorhin. Ja, da bin ich vor Jahren auch einmal gewesen und hat mich alles ganz ungemein interessiert. Da liegt nämlich, was du vielleicht nicht weißt, Hippolyta von Uchtenhagen begraben und hat einen schönen Grabstein. Ich glaube so um 1590 herum. Damals gab man noch Geld für so was aus. Aber was mir in Neuenhagen, als ich damals hinkam, noch interessanter war, das war eine kleine Stube, darin die Schweden einen Neuenhagner Amtmann am Strohfeuer geröstet hatten. Richtiger Dreißigjähriger Krieg. Und jetzt, denke dir, jetzt schlafen die Leute darin. Ich erschrak ordentlich darüber und sagte, daß ich mir eine andere Schlafstube ausgesucht haben würde.«
        Mein Papa nickte zustimmend.
        »Ja, am Strohfeuer geröstet«, wiederholte ich. »Und das alles, denn sie wolltens dem Amtmann abzwacken, um des verdammten Geldes willen.«
        »Ja, das verdammte Geld!« sagte mein Vater. »Es ist schon recht, und ist auch oft wirklich bloß ein verdammtes Geld. Aber es gibt auch ein gutes Geld, und ich mache mir jetzt mitunter so meine Gedanken darüber. Man soll nicht einen Amtmann rosten, um es zu kriegen; aber wenn man was hat, dann soll mans festhalten. Geld ist doch was, ist eine Macht. Und ihr habt nun alle nichts.«
        »Ach Papa, rede doch nicht davon. Du weißt ja, es ist uns ganz egal.«
        »Dir vielleicht, aber nicht deiner Mama.«
        »Sie hat sich nun auch darin gefunden.«
        »Darin gefunden! Sieh, mein Junge, da liegt die Anklage, und die alte Frau hat auch ganz recht. Das sag mir jetzt alle Tage, wenn ich da unten mit meiner Luise sitze und ihr mein Weltsystem entwickele, weil ich keinen andern habe, dem ich es vortragen kann, und wenn dann die beste Stelle kommt, und ich mit einem Male sage: 'Nicht wahr, Luise?' sieh, dann fährt sie zusammen oder sitzt da wie ein Zaunpfahl.«
        »Es wird dir schwerer als uns, Papa.«
        »Wohl möglich. Und es würde mir noch schwerer, wenn ich mir nicht sagte: Die Verhältnisse machen den Menschen.«
        »Das sagtest du schon, wie wir noch Kinder waren. Und gewiß ist es richtig.«
        »Ja, richtig ist es. Aber damals, ich kann so zu dir sprechen, denn du bist ja nun selber schon ein alter Knabe, damals sagte ich es so hin und dachte mir nicht viel dabei. Jetzt aber, wenn ich meinen alten Lieblingssatz ausspiele, tu ichs mit Überzeugung. So ganz kann es einen freilich nicht beruhigen. Aber doch beinah, doch ein bißchen.«
        Ich nahm seine Hand und streichelte sie.
        »Das ist recht. Ihr habt eine Tugend, ihr seid alle nicht begehrlich, nicht happig. Aber da wir nun mal dabei sind und ich nicht weiß, wie lang ich auf dieser sublunarischen Welt noch wandle, so möcht ich doch über all diese Dinge noch ein Wort zu dir sagen. Es gibt immer noch ein paar Leute, die denken, das Jeu sei schuld gewesen. Ich sage dir, das ist Unsinn. Das war nur so das zweite, die Folge. Schuld war, was eigentlich sonst das Beste ist, meine Jugend, und wenn es nicht lächerlich wäre, so möcht ich sagen, neben meiner Jugend meine Unschuld. Ich war wie das Lämmlein auf der Weide, das rumsprang, bis es die Beine brach.«
        Er blieb einen Augenblick stehn, denn er litt an asthmatischen Beschwerden, und ich mahnte ihn, daß es wohl Zeit sei, umzukehren.
        »Ja, laß uns umkehren; wir haben dann den Wind im Rücken, und da spricht es sich besser. Und ich habe doch noch dies und das auf dem Herzen. Ich sagte eben, meine Jugend war schuld. Und das ist auch richtig. Sieh, ich hatte noch nicht ausgelernt, da ging ich schon in den Krieg, und ich war noch nicht lange wieder da, da verlobte ich mich schon. Und an meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag habe ich mich verheiratet, und als ich vierundzwanzig wurde, da lagst du schon in der Wiege.«
        »Mir ist es lieb, daß du so jung warst.«
        »Ja, alles hat seine zwei Seiten, und es hat wohl auch seine Vorteile gehabt, daß ich nicht morsch und mürbe war. Aber das mit der Unerfahrenheit bleibt doch ein schlimmes Ding, und das Allerschlimmste war, daß ich nichts zu tun hatte. Da konnt ichs denn kaum abwarten, bis abends der verdammte Tisch aufgeklappt wurde.«
        »Sonderbar, ich habe so vieles von dir geerbt, aber davon keine Spur. Spiel war mir immer langweilig.«
        Er lachte wehmütig. »Ach, mein lieber Junge, da täuschst du dich sehr, wenn du meinst, daß wir darin voneinander abweichen. Es hat mir auch nie Vergnügen gemacht, auch nicht ein bißchen. Und ich spielte noch dazu herzlich schlecht. Aber wenn ich mich dann den ganzen Tag über gelangweilt hatte, wollt ich am Abend wenigstens einen Wechsel verspüren, und dabei bin ich mein Geld losgeworden und sitze nun hier einsam, und deine Mutter erschrickt vor dem Gedanken, ich könnte mich wieder bei ihr einfinden. Es sind nun beinah fünfzig Jahre, daß wir uns verlobten, und sie schrieb mir damals zärtliche Briefe, denn sie liebte mich. Und das ist nun der Ausgang. Zuneigung allein ist nicht genug zum Heiraten; Heiraten ist eine Sache für vernünftige Menschen. Ich hatte noch nicht die Jahre, vernünftig zu sein.«
        »Ist es dir recht, wenn ich der Mama das alles wiedererzähle?«
        »Gewiß ist es mir recht, trotzdem es ihr nichts Neues ist. Denn es sind eigentlich ihre Worte. Sie hat nur die Genugtuung, daß ich sie mir zu guter Letzt zu eigen gemacht habe. Sie hat recht gehabt in allem, in ihren Worten und in ihrem Tun.«
            Er sprach noch eine Weile so weiter. Dann kamen wir an die Stelle, wo die Chaussee aus dem Walde wieder niederstieg, zunächst auf den Fluß und die Bohlenbrücke zu. Jenseits der Brücke dehnte sich dann das Bruch in seiner Sommerschönheit, diesseits aber lag als nächstes das Wohnhaus meines Vaters, aus dessen Schornstein eben ein heller Rauch in der Nachmittagssonne aufkräuselte.
        »Da sind wir wieder, und Luise kocht nun wohl schon den Kaffee. Darauf versteht sie sich. 'Ist die Blume noch so klein, etwas Honig sitzt darein.' Oder so ähnlich. Man kann nicht alle Verse auswendig wissen. Und lobe nur den Kaffee, sonst erzählt sie mir dreißigmal, es habe dir nicht geschmeckt. Und wenn ich Glück habe, weint sie auch noch dazu.«
        Als wir ins Haus traten, war die Kaffeedecke bereits aufgelegt, und die Tassen standen schon da, dazu, faute de mieux, kleine Teebrötchen, denn Schiffmühle war keine Bäckergegend, und nur einmal des Tages kam die Semmelfrau. Dazu hatten wir schönes Quellwasser, das aus dem Sandberg kam.
        Als fünf Uhr heran war, mußt ich wieder fort. »Ich begleite dich noch«, und so bracht er mich bis über die Brücke.
        »Nun lebe wohl, und laß dich noch mal sehen.« Er sagte das mit bewegter Stimme, denn er hatte die Vorahnung, daß dies der Abschied sei.
        »Ich komme wieder, recht bald.«
        Er nahm das grüne Käpsel ab und winkte.
        Und ich kam auch bald wieder.
        Es war in den ersten Oktobertagen, und oben auf dem Bergrücken, da, wo wir von »Poseidons Fichtenhain« gescherzt hatten, ruht er nun aus von Lebens Lust und Müh.

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