Testi Definizione Esercizi


Henrich Stilling

Eine wahrhafte Geschichte


In Westphalen liegt ein Kirchsprengel in einem sehr bergichten Landstriche, auf dessen Höhen man viele kleine Grafschaften und Fürstenthümer übersehen kann. Das Kirchdorf heißt Florenburg; die Einwohner aber haben von Alters her einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und daher, ob sie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben müßen, vor den Nachbarn, die bloße Bauren sind, immer einen Vorzug zu behaupten gesucht, die ihnen aber auch dagegen nachsagten, daß sie vor und nach den Namen Florendorf verdrängt und an dessen Statt Florenburg eingeführet hätten. Dem sey aber wie ihm wolle, es ist wirklich ein Magistrat daselbst, dessen Haupt zu meiner Zeit Johannes Henrikus Scultetus war. Ungeschlachte, unwissende Leute nannten ihn außer dem Rathhause Meister Hanns, hübsche Bürger pflegten doch auch wohl Meister Schulde zu sagen.
     Eine Stunde von diesem Orte süd-ostwärts liegt ein kleines Dörfchen Tiefenbach, von seiner Lage zwischen Bergen so genannt, an deren Fuße die Häuser zu beiden Seiten des Wassers hängen, das sich aus den Thälern von Süd und Nord her just in die Enge und Tiefe zum Fluß hinsammelt. Der östliche Berg heißt der Giller, geht steil auf, und seine Fläche nach Westen gekehrt, ist mit Maibuchen dicht bewachsen. Von ihm ist eine Aussicht über Felder und Wiesen, die auf beyden Seiten durch hohe verwandte Berge gesperrt wird. Sie sind ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man sieht keine Lücke, außer wo manchmal ein Knabe einen Ochsen hinauf treibt und Brennholz auf halbgebahntem Wege zusammenschleppt.
     Unten am nördlichen Berge, der Geissenberg genannt, der wie ein Zuckerhut gegen die Wolken steigt, und auf dessen Spitze Ruinen eines alten Schlosses liegen, steht ein Haus, worinnen Stillings Eltern und Voreltern gewohnt haben.
     Vor ohngefähr dreißig Jahren lebte noch darinn ein ehrwürdiger Greis, Eberhard Stilling, ein Bauer und Kohlenbrenner. Er hielt sich den ganzen Sommer durch im Walde auf, und brannte Kohlen; kam aber wöchentlich einmal nach Hause, um nach seinen Leuten zu sehen, und sich wieder auf eine Woche mit Speisen zu versehen. Er kam gemeiniglich Sonnabends Abends, um den Sonntag nach Florenburg in die Kirche gehen zu können, allwo er ein Mitglied des Kirchenraths war. Hierinnen bestunden auch die mehresten Geschäfte seines Lebens. Sechs großgezogene Kinder hatte er, wovon die zween ältesten Söhne, die vier jüngsten aber Töchter waren.
     Einsmals als Eberhard den Berg herunter kam, und mit dem ruhigsten Gemüthe die untergehende Sonne betrachtete, die Melodie des Liedes, Der lieben Sonnen Lauf und Pracht hat nun den Tag vollführet, auf einem Blatt pfif, und dabey das Lied durchdachte, kam sein Nachbar Stähler hinter ihm her, der ein wenig geschwinder gegangen war, und sich eben nicht viel um die untergehende Sonne bekümmert haben mochte. Nachdem er eine Weile schon nahe hinter ihm gewesen, auch ein paarmal fruchtlos gehustet hatte; fieng er ein Gespräch an, das ich hier wörtlich beifügen muß.
     »Guten Abend, Ebert!«
     Dank hab, Stähler! (indem er fortfuhr auf dem Blatt zu pfeifen.)
     »Wenn das Wetter so bleibt, so werden wir unser Gehölze bald zugerichtet haben. Ich denke, dann sind wir in drey Wochen fertig.«
     Es kann seyn. (Nun pfif er wieder fort.)
     »Es will so nicht recht mehr mit mir fort, Junge! Ich bin schon acht und sechzig Jahr alt, und du wirst halt siebenzig haben.«
     Das soll wohl seyn. Da geht die Sonne hinter den Berg unter, ich kann mich nicht genug erfreuen über die Güte und Liebe Gottes. Ich war so eben in Gedanken drüber; es ist auch Abend mit uns, Nachbar Stähler! der Schatten des Todes steigt uns täglich näher, er wird uns erwischen, ehe wirs uns versehen. Ich muß der ewigen Güte danken, die mich nicht nur heute sondern den ganzen Lebenstag durch mit vielem Beistand getragen, erhalten und versorgt hat.
     »Das kann wohl seyn!«
     Ich erwarte auch wirklich ohne Furcht den wichtigen Augenblick, wo ich von diesem schweren, alten und starren Leib befreyt werden soll, um mit den Seelen meiner Voreltern, und anderer heiligen Männer, in einer ewigen Ruhe umgehen zu können. Da werd' ich finden: Doktor Luther, Calvinus, Oecolampadius, Bucerus, und andere mehr, die mir unser seeliger Pastor, Herr Winterberg, so oft gerühmt, und gesagt hatte, daß sie nächst den Aposteln, die frömmsten Männer gewesen.
     »Das kann möglich seyn! Aber sag' mir, Ebert, hast du die Leute, die du da herzählst, noch gekannt?«
     Wie schwazest du? die sind über zweihundert Jahr todt.
     »So! - das wäre!«
     Dabei sind alle meine Kinder groß, sie haben schreiben und lesen gelernt, sie können ihr Brod verdienen, und haben mich und meine Margrethe bald nicht mehr nöthig.
     »Nöthig? - hat sich wohl! - Wie leicht kann sich ein Mädchen oder Junge verlaufen, sich irgend mit armen Leuten abgeben, und seiner Familie einen Klatsch anhängen, wann die Eltern nicht mehr Acht geben können!«
     Vor dem allen ist mir nicht bange. Gott Lob! daß mein Achtgeben nicht nöthig ist. Ich hab' meinen Kindern durch meine Unterweisung und Leben einen so großen Abscheu gegen das Böse eingepflanzt, daß ich mich nicht mehr zu fürchten brauche.
     Stähler lachte herzlich! eben wie ein Fuchs lachen würde, wenn er könnte, der dem wachsamen Hahn ein Hühnchen entführt hat, und fuhr fort:
     »Ebert, du hast viel Vertrauen auf deine Kinder. Ich denke aber du wirst wohl die Pfeife in den Sack stecken, wann ich dir alles sagen werde, was ich weiß.«
     Stilling drehte sich um, stund, und stützte sich auf seine Holzaxt, lächelte mit dem zufriedensten und zuversichtlichsten Gesichte, und sagte: Was weißest du denn, Stähler, das mir so weh in der Seele thun soll?
     »Hast du gehört, Nachbar Stilling, daß dein Wilhelm, der Schulmeister, heurathet?«
     Nein, davon weis ich noch nichts.
     »So will ich dir sagen, daß er des vertriebenen Predigers Morizens Tochter zu Lichthausen haben will, und daß er sich mit ihr versprochen hat.«
     Daß er sich mit ihr versprochen hat, ist nicht wahr; daß er sie aber haben will, das kann seyn.
     Nun giengen sie wieder.
     »Kann das seyn? Ebert! - Kannst du das leiden? Ein Bettelmensch, das nichts hat, kannst du das deinem Sohn geben?«
     Gebettelt haben des ehrlichen Mannes Kinder nie; und wann sie's hätten? - Aber welche Tochter mag es seyn? Moriz hat zwo Töchter.
     »Dortchen.«
     Mit Dortchen will ich mein Leben beschließen. Nie will ich es vergessen! Sie kam einmal zu mir auf einen Sonntag Nachmittag, grüßte mich und Margrethe von ihrem Vater, setzte sich und schwieg. Ich sah ihr an den Augen an, daß sie was wollte, auf den Backen aber daß sie's nicht sagen konnte. Ich fragte sie, braucht ihr was? Sie schwieg und seufzte. Ich ging und holte ihr vier Reichsthaler; da! sagte ich, die will ich euch leihen, biß ihr mir sie wieder geben könnt.
     »Du hättest sie ihr wohl schenken können; die bekommst du dein Lebetag nicht wieder.«
     Das war auch meine Meinung, daß ich ihr das Geld schenken wollte. Hätt' ich es ihr aber gesagt, das Mädchen hätte sich noch mehr geschämt. Ach, sagte sie, bester liebster Vater Stilling! (das gute Kind weinte blutige Thränen) wenn ich seh', wie mein alter Papa sein trocken Brod im Munde herumschlägt, und kann es nicht kauen, so blutet mir das Herz. - Meine Margrethe lief, holte einen großen Topf süße Milch, und seitdem hat sie alle Woche ein paarmal süße Milch dahin geschickt.
     »Und du kannst leiden, daß Wilhelm das Mädchen nimmt?«
     Wenn er's haben will, von Herzen gern. Gesunde Leute können was verdienen, reiche Leute können das Ihrige verlieren.
     »Du hast vorhin gesagt, du wüßtest noch nichts davon. Du weißt doch, wie du sagst, daß er sich noch nicht mit ihr versprochen hat.«
     Das weis ich! - Er fragt mich gewiß vorher.
     »Hör'! Er dich fragen? Ja, da kannst du lange warten!«
     Stähler! ich kenne meinen Wilhelm. Ich hab' meinen Kindern immer gesagt, sie könnten so arm und so reich heurathen als sie wollten und könnten, sie sollten nur auf Fleiß und Frömmigkeit sehen. Meine Margrethe hatte nichts, und ich ein Gut mit vielen Schulden. Gott hat mich gesegnet, ich kann jedem hundert Gulden baar mitgeben.
     »Ich bin kein Gleichviels-Mann, wie du! Ich muß wissen was ich thue, und meine Kinder sollen heurathen wie ich's vor's beste erkenne.«
     Ein jeder macht die Schuh nach seinem Leisten, sagte Stilling. Nun war er nah vor seiner Hausthür.
     Margaretha Stillings hatte schon ihre Töchter zu Bette gehen lassen. Ein Stück Pfannenkuchen stund für ihren Ebert auf einem irdenen Teller in der heißen Asche; sie hatte auch noch ein wenig Butter dazu gethan. Ein Kümpchen mit gebrockter Milch stund auf der Bank, und sie begann zu sorgen, wo ihr Mann wohl so lange bleiben möchte. Indem rasselte die Klinke an der Thür, und er trat herein. Sie nahm ihm seinen leinenen Queersack von der Schulter, deckte den Tisch und brachte ihm sein Essen. Jemini, sagte Margrethe, der Wilhelm ist noch nicht hier. Es wird ihm doch nicht etwa Unglück begegnet seyn. Sind auch wohl Wölfe hier herum? Hat sich wohl, sagte der Vater, und lachte: denn das war so seine Gewohnheit, er lachte oft hart wenn er ganz allein war.
     Der Schulmeister, Wilhelm Stilling, trat hierauf in die Stube. Nachdem er seine Eltern mit einem guten Abend gegrüßt, setzte er sich auf die Bank, legte die Hand an den Backen, und war tiefsinnig. Er sagte lange kein Wort. Der alte Stilling stocherte seine Zähne mit einem Messer, denn das war so seine Gewohnheit nach Tische zu thun, wenn er auch schon kein Fleisch gegessen hatte. Endlich fing die Mutter an: Wilhelm, mir war als bang, dir sollte was wiederfahren seyn, weil du so lange bleibst. Wilhelm antwortete: O! Mutter! das hat keine Noth. Mein Vater sagt ja oft, wer auf seinen Berufswegen geht, darf nichts fürchten. Hier wurd' er bald bleich, bald roth; endlich brach er stammelnd los, und sagte: Zu Lichthausen (so hieß der Ort, wo er Schule hielt, und dabei den Bauren ihre Kleider machte) wohnt ein armer vertriebener Prediger; ich wäre wohl willens seine jüngste Tochter zu heurathen; wenn ihr beide Eltern es zufrieden seyd, so wird sich keine Hinderniß mehr finden. Wilhelm, antwortete der Vater, du bist drei und zwanzig Jahr alt; ich habe dich lehren lassen, du hast Erkenntniß genug, kannst dir aber in der Welt nicht selber helfen, denn du hast gebrechliche Füße; das Mädchen ist arm, und zur schweren Arbeit nicht angeführt; was hast du für Gedanken dich ins künftige zu ernähren? Der Schulmeister antwortete: Ich will mit meiner Handthierung mich wohl durchbringen, und mich im übrigen ganz an die göttliche Vorsorge übergeben; die wird mich und meine Dorthe eben sowohl nähren, als alle Vögel des Himmels. Was sagst du Margreth? sprach der Alte. - Hm! was sollt ich sagen, versetzte sie: weißt du noch, was ich dir zur Antwort gab, in unsern Brauttagen? Laß uns Wilhelmen mit seiner Frau bei uns nehmen, er kann sein Handwerk treiben. Dortee soll mir und meinen Töchtern helfen, so viel sie kann. Sie lernt noch immer etwas, denn sie ist noch jung. Sie können mit uns an den Tisch gehen; was er verdient, das giebt er uns, und wir versorgen dann beide mit dem Nöthigen: so gehts, meyn' ich, am besten. Wenn du meinst, erwiederte der Vater, so mag er das Mädchen holen. Wilhelm! Wilhelm! denke was du thust, es ist nichts geringes. Der Gott deiner Väter segne dich mit allem, was dir und deinem Mädchen nöthig ist. Wilhelmen stunden die Thränen in den Augen. Er schüttelte Vater und Mutter die Hand, versprach ihnen alle Treue, und gieng zu Bette. Und nachdem der alte Stilling sein Abendlied gesungen, die Thür mit dem hölzernen Wirbel zugeklemmt, Margrethe aber nach den Kühen gesehen hatte, ob sie alle lägen und wiederkäueten, so gingen sie auch schlafen.
     Wilhelm kam auf seine Kammer, an welcher nur ein Laden war, der aber eben so genau nicht schloß, daß nicht so viel Tag hätte durchschimmern können um zu wissen, ob man aufstehen müsse. Dieses Fenster war noch offen, daher trat er an dasselbe, es sah gerade gegen den Wald hin, alles war in tiefer Stille, nur zwo Nachtigallen sangen wechselsweise auf das allerlieblichste. Dieses war Wilhelmen öfters ein Wink gewesen. Er sank an der Wand nieder. O Gott! seufzte er, dir dank ich, daß du mir solche Eltern gegeben hast! O laß sie Freude an mir sehen! Laß mich ihnen nicht zur Last seyn! Dir dank ich, daß du mir eine tugendhafte Frau giebst! O segne mich! - Thränen und Empfindungen hemmten ihm die Sprache, und da redete sein Herz unaussprechliche Worte, welche nur die Seelen empfinden und kennen, die sich in gleicher Lage befunden haben.
     Nie hat jemand sanfter geschlafen als der Schulmeister. Sein inniges Vergnügen weckte ihn des Morgens früher als sonst. Er stund auf, ging heraus in den Wald, und erneuerte alle seine heilige Vorsätze die er je in seinem Leben sich vorgenommen hatte. Um sieben Uhr gieng er wieder nach Haus, und aß mit seinen Eltern und Schwestern die süße Milchsuppe, und ein Butterbrod. Nachdem sich nun der Vater zuerst, hernach auch der Sohn den Bart abgemacht, die Mutter aber mit den Töchtern sich berathschlaget, wer unter ihnen zu Hause bleiben, und wer in die Kirche gehen sollte, so zog man sich an. Dieses alles war in einer halben Stunde geschehen; sodann gingen die Töchter vor, darnach Wilhelm, und zu hinterst der Vater mit seinem dicken Dornenstocke. Wenn der alte Stilling mit seinen Kindern ausging, so mußten sie allemal vor ihm gehn, damit er, wie er zu sagen pflegte, den Gang und die Sitten seiner Kinder sehen und sie zur Ehrbarkeit anführen könnte.
     Nach der Predigt ging Wilhelm wieder nach Lichthausen, wo er Schulmeister war, und wo auch sein älterer verheyratheter Bruder, Johann Stilling, wohnte. In einem andern Nachbarhause hatte der alte Pastor Moriz mit seinen zwo Töchtern ein paar Kammern gemiethet, in welchen er sich aufhielte. Nachdem nun den Nachmittag Wilhelm seinen Bauern eine Predigt in der Capelle vorgelesen, und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied gesungen, so eilte er, so geschwind als es nur seine gebrechliche Füße zulassen wollten, nach Herr Morizen. Der alte Mann saß eben vor seinem Clavier, und spielte ein geistlich Lied. Sein Schlafrock war sehr reinlich, und schön gewaschen, nirgend sah man einen Riß, aber wohl hundert Lappen. Neben ihm auf einer Kiste saß Dorothe, ein Mädchen von zwei und zwanzig Jahren, ebenfalls sehr reinlich, aber ärmlich, angezogen, die gar anmuthig das Lied zu ihres Vaters Melodie sang. Sie winkte ihrem Wilhelm heiterlächelnd. Er setzte sich bei sie und sang mit ihr aus ihrem Buch. Sobald das Lied zu Ende war, grüßte der Pastor Wilhelmen und sagte: Schulmeister, ich bin nie vergnügter, als wenn ich spiele und singe. Wie ich noch Prediger war, da ließ ich manchmal lange singen, weil unter so viel vereinigten Stimmen das Herz weit über alles Irdische sich wegschwingt. Doch ich muß etwas anders mit euch reden. Mein Dortchen hat mir gestern Abend herausgestammelt, daß es euch lieb habe; ich bin aber arm; was sagen eure Eltern? Sie sind mit allem herzlich wohl zufrieden, antwortete Wilhelm. Dortchen drungen Thränen aus ihren hellen Augen, und der alte ehrwürdige Mann stand auf, nahm seiner Tochter rechte Hand, gab sie Wilhelmen und sagte: Ich habe nichts in der Welt als zwo Töchter; diese ist mein Augapfel; nimm sie, Sohn! nimm sie! - Er weinte - »der Seegen Jehova triefe auf euch herunter, und mache euch gesegnet vor ihm und seinen Heiligen und gesegnet vor der Welt! Eure Kinder müßen wahre Christen werden, eure Nachkommen seyen groß! Sie müßen angeschrieben stehn im Buche des Lebens! Mein ganzes Leben war Gott geheiliget; unter vielen Schwachheiten, aber ohne Anstoß hab' ich gewandelt und alle Menschen geliebt; dies sey auch eure Richtschnur, so werden meine Gebeine im Frieden ruhen!« Er wischte sich hier die Augen. Beide Verlobten küßten ihm Hände, Backen und Mund, und hernach auch sich selbst zum erstenmale, und so saßen sie wieder nieder. Der alte Herr fing hierauf an: Aber Dortchen, dein Bräutigam hat gebrechliche Füsse, hast du das noch nicht gesehn? Ja, Papa, sagte sie, ich hab's gesehn; aber er redet immer so gut und so fromm mit mir, daß ich selten Acht auf seine Füße gebe.
     »Gut, Dortchen, die Mädchen pflegen doch auch wohl auf die Leibesgestalt zu sehen.«
    Ich auch, Papa, gab sie zur Antwort; aber Wilhelm gefällt mir so, wie er ist. Hätte er nun gerade Füße, so wäre er Wilhelm Stilling nicht, und wie würde ich ihn denn lieb haben können?
     Der Pastor lächelte zufrieden und fuhr fort: Du wirst nun diesen Abend auch die Küche bestellen müssen, denn der Bräutigam muß mit dir essen. Ich hab' nichts, sagte die unschuldige Braut, als ein wenig Milch, Käse und Brod; wer weiß aber, ob mein Wilhelm damit zufrieden ist? Ja, versetzte Wilhelm, ein Stück trocken Brod mit euch zu essen, ist angenehmer, als fette Milch mit Weisbrod und Eyerpfannenkuchen. Herr Moriz zog indessen seinen abgetragenen braunen Rock mit schwarzen Knöpfen und Knopflöchern an, nahm sein lakirt gewesenes Rohr, ging und sagte: Da will ich zum Amtsverwalter gehn, er wird mir seine Flinte leihen, und dann will ich sehn, ob ich etwas schießen kann. Das that er oft, denn er war in seiner Jugend ein Freund von der Jagd gewesen.
     Nun waren unsere Verlobte allein, und das hatten sie beide gewünscht. Wie er fort war, schlugen sie die Hände in einander, saßen neben einander, und erzählten sich, was ein jedes empfunden, geredt und gethan, seitdem sie sich einander gefallen hatten. Sobald sie fertig waren, fingen sie wieder von vorne an, und gaben der Geschichte vielerlei Wendungen; so war sie immer neu: für alle Menschen langweilig, nur für sie nicht.
     Friederike, Morizens andere Tochter, unterbrach dieses Vergnügen. Sie stürmte herein, indem sie ein altes Historien-Lied dahersang. Sie stutzte. Stör' ich euch? fragte sie. - Du stöhrst mich nie, sagte Dortchen; denn ich gebe niemals Acht auf das, was du sagst oder thust. Ja du bist fromm, versetzte jene; aber du darfst doch so nah bei den Schulmeister sitzen? doch der ist auch fromm. - Und noch dazu dein Schwager, fiel ihr Dorothe in die Rede, heute haben wir uns versprochen. - Das giebt also eine Hochzeit für mich, sagte Friederike, und hüpfte wieder zur Thür hinaus.
     Indem sie so vergnügt beysammen saßen, stürmte Friederike wüthend wieder in die Kammer. Ach! rief sie stammelnd, da bringen sie meinen Vater blutig ins Dorf. Jost der Jäger schlägt ihn noch immer, und drei von des Junkers Knechten schleppen ihn fort. Ach! sie schlagen ihn todt! Dortchen that einen hellen Schrei und floh zur Thür hinaus. Wilhelm eilte ihr nach, aber der gute Mensch konnte nicht so geschwind fort, wie die Mädchen. Sein Bruder Johann wohnte nah bei Morizen, dem rief er. Diese beide gingen dann auf den Lärm zu. Sie fanden Morizen in dem Wirthshause auf einem Stuhl sitzen; seine grauen Haare waren von Blut zusammengebacken; die Knechte und der Jäger stunden um ihn, fluchten, spotteten, knüpften ihm Fäuste vor die Nase, und eine geschossene Schnepfe lag vor Morizen auf dem Tisch. Der unpartheyische Wirth trug ruhig Brandwein zu. Friederike bat flehentlich um Gnade, und Dortchen um ein wenig Brandwein, dem Vater den Kopf zu waschen; allein sie hatte kein Geld zu bezahlen, und der Schade war auch zu groß für den Wirth, ihr ein halbes Glas zu schenken. Doch wie die Weiber von Natur barmherzig sind, so brachte die Wirthin einen Scherben, der unter dem Zapfen des Brandweinfasses gestanden, und daraus wusch Dortchen dem Vater den Kopf. Moriz hatte schon vielmal gesagt, daß ihm der Junker Erlaubnis gegeben, so viel zu schießen, als ihm beliebte; allein, der war nun jetzt zum Unglücke verreiset; der Pastor schwieg daher still und entschuldigte sich nicht mehr. So stunden die Sachen, als die Gebrüder Stilling ins Wirthshaus kamen. Die erste Rache die sie nahmen, war an einem Brandweinglase, womit der Wirth aus dem Keller kam, und es sehr behutsam trug, um nichts zu verschütten; wiewohl diese Vorsicht eben so gar nöthig nicht war, denn das Glas war über ein Viertel leer. Johann Stilling wischte dem Wirth über die Hand, daß das Glas gegen die Wand fuhr und in tausend Stücken sprang. Wilhelm aber war schon in der Stube, griff seinen Schwiegervater an der Hand, und führte ihn mit solchem Ernst aus der Stube, gleich als wenn er der Junker selbst gewesen wäre; sagte aber niemand etwas, sondern schwieg ganz still. Der Jäger und die Knechte drohten, hielten bald hie, bald da; allein Wilhelm, der desto stärker in den Armen war, je schwächer seine Füße waren, sah und hörte nicht, schwieg immer still und arbeitete nur Morizen los. Wo er an seinem Rock eine zugeklemmte Hand fand, die brach er auf, und so brachte er ihn vor die Thür. Johann Stilling aber redete mit den Jägern und den Knechten, und seine Worte waren lauter Messer für sie; denn ein jeder wußte, wie hoch er bey dem Junker angeschrieben stund, und wie oft er mit ihm zu Abend speisen mußte. Die Sache lief am Ende dahin aus, daß der Jäger bei der Wiederkunft des Junkers abgesetzt, Morizen aber zwanzig Thaler für seine Schmerzen ausgezahlt wurden. Was ihnen noch schneller durchhalf, war, daß der ganze Platz vor dem Hause voller Bauren stand, welche Tobak rauchten, und sich mit dem Zusehn belustigten; und wo es nur darauf ankam, daß einer unter ihnen die Frage aufwarf, ob nicht durch diesen Vorfall Eingriff in ihre Freyheit geschehen sey? Plötzlich würden hundert Fäuste bereit gewesen seyn, ihre christliche Liebe gegen Morizen auf dem Nacken Jostens und seiner Gefährten zu beweisen. Auch war der Wirth eine feige Memme, der oft Ohrfeigen von seiner Frau verschlucken mußte; und endlich muß ich noch hinzufügen, der alte Stilling und seine Söhne hatten sich durch ihre ernste und abgesonderte Aufführung eine solche Hochachtung erworben, daß fast niemand das Herz hatte in ihrer Gegenwart nur zu scherzen; wozu noch kommt, was ich oben schon berührt, daß Johann Stilling bei dem Junker in großer Gnade stand. Nun wieder zur Geschichte.
     Der alte Moriz wurde in wenig Tagen wieder besser, und man vergaß diese verdrießliche Sache um so eher, weil man sich mit viel vergnügteren Dingen beschäftigte, nemlich mit den Zurüstungen zur Hochzeit, welche der alte Stilling und seine Margrethe ein- für allemal in ihrem Hause haben wollten. Sie mästeten ein paar Hüner zu Suppen; und ein fettes Milchkalb wurde dazu bestimmt, auf großen irdenen Schüsseln gebraten zu werden; gebackene Pflaumen die Menge, und Reis zu Breien, nebst Rosinen und Corinthen in die Hünersuppen, wurden im Ueberfluß angeschafft. Der alte Stilling hat sich wohl verlauten lassen, daß ihn diese Hochzeit, nur allein an Speisen und Victualien bei zehn Reichsthaler gekostet habe. Dem sey aber wie ihm wolle, alles war doch aufgeräumt. Wilhelm hatte vor der Zeit die Schule ausgesetzt; denn in solchen Zeiten ist man zu keinem Berufsgeschäfte aufgelegt. Auch brauchte er die Tage nothwendig, seiner Braut und Schwestern neue Kleider auf die Hochzeit zu machen, und sonst mancherlei zu handthieren. Stillings Töchter verlangten ebenfalls. Sie probirten öfters ihre neue Wämser und Röcke von feinem schwarzen Tuch; die Zeit wurd' ihnen Jahre lang, biß sie sie einmal einen ganzen Tag anhaben könnten.
     Endlich brach dann der längst gewünschte Donnerstag an. Alles war den Morgen vor der Sonne in Stillings Hause wacker; nur der Alte, der den Abend vorher spät aus dem Wald gekommen war, schlief ruhig bis es Zeit war, mit den Brautleuten zur Kirche zu gehen. Nun gieng man in geziemender Ordnung nach Florenburg, allwo die Braut mit ihrem Gefolge schon angekommen war. Die Copulation ging ohne Widerspruch vor sich, und alle zusammen verfügten sich nun nach Tiefenbach zum Hochzeitmale. Zwei lange Bretter waren in der Stuben neben einander auf hölzerne Böcke gelegt, anstatt des Tisches; Margrethe hatte ihre feinste Tischtücher drüber gespreitet, und nun wurden die Speisen aufgetragen. Die Löffel waren von Ahornholz, schön glatt, mit ausgestochenen Rosen, Blumen und Laubwerk gearbeitet. Die Zulegmesser hatten schöne gelbe hölzerne Stiele; so waren auch die Teller schön rund und glatt vom härtesten weißen Buchenholz gedrechselt. Das Bier schäumte in weißen steinernen Krügen mit blauen Blumen. Doch stellte Margrethe auch einem jeden frei, anstatt des Biers von ihrem angenehmen Birnmost zu trinken, wenn jemand dazu Belieben tragen möchte.
     Nachdem alle zur Gnüge gegessen und getrunken hatten, so wurden vernünftige Gespräche angestellt. Wilhelm aber und seine Braut wollten lieber allein seyn und reden; sie giengen daher tief in den Wald hinein. Mit der Entfernung von den Menschen wuchs ihre Liebe. Ach, wären keine Bedürfnisse des Lebens! keine Kälte, Frost und Nässe, was würde diesem Paar an einer irdischen Seeligkeit gemangelt haben? Die beiden alten Väter, die sich indessen mit einem Krug Bier allein gesetzt hatten, verfielen in ein ernstes Gespräch. Stilling redete also:
     »Herr Mitvater, mir hat immer gedäucht, ihr hättet besser gethan, wann ihr euch an das Laboriren gar nicht gekehrt hättet.«
     Warum, Mitvater?
     »Wenn ihr eure Uhrmacherei beständig getrieben hättet, so hättet ihr reichlich euer Brod erwerben können; nun aber hat euch eure Arbeit nichts geholfen, und dasjenige, was ihr hattet, ist noch dazu drauf gegangen.«
     Ihr habt Recht und auch Unrecht. Wenn ich gewußt hätte, daß dreißig bis vierzig Jahr hingehen würden, eh ich den Stein der Weisen würde gefunden haben, so hätte ich mich freilich bedacht, ehe ich angefangen hätte. Nun aber, da ich durch die lange Erfahrung etwas gelernt habe, und tief in die Erkenntnisse der Natur eingedrungen bin, nun würd' es mir leid thun, wenn ich mich umsonst sollte so lange geplagt haben.
     »Ihr habt euch gewiß so lange umsonst geplagt, denn ihr habt euch einmal bisher kümmerlich beholfen. Ihr mögt nun so reich werden als ihr wollt, ihr könnt doch das Elend so vieler Jahre nicht in Glückseeligkeit verwandeln; und zudem glaub ich nicht, daß ihr ihn jemals bekommt. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, ich glaube nicht, daß es einen Stein der Weisen giebt.«
     Ich kann euch beweisen, daß es einen Stein der Weisen giebt. Ein gewisser Doktor Helvetius im Haag, hat ein klein Büchlein geschrieben, das güldne Kalb genannt; darinn ist es deutlich bewiesen, so daß niemand, auch der größte Ungläubige, wenn er's lieset, nicht mehr zweifeln kann. Ob ich denselben aber bekommen werde, das ist eine andere Frage. Warum nicht eben sowohl als ein anderer? da er ein freies Geschenk Gottes ist.
     »Wenn euch Gott den Stein der Weisen schenken wollte, ihr hättet ihn schon lange! Warum sollte er ihn euch so lange vorenthalten? Zudem ist's ja nicht nöthig, daß ihr ihn habt; wie viel Menschen leben ohne den Stein der Weisen!«
     Das ist wahr; aber wir sollen uns so glücklich machen, als wir können.
     »Ein dreißigjährig Elend ist gewiß kein Glück; aber nehmt mir nicht übel (er schüttelte ihm die Hand), ich habe, so lang ich lebe, keinen Mangel gehabt, bin gesund gewesen und alt geworden, meine Kinder hab' ich erzogen, lernen lassen, und ordentlich gekleidet. Ich bin recht vergnügt, und also glücklich. Man konnte mir den Stein der Weisen nicht schenken.«
     »Aber hört, Mitvater! ihr singt recht gut, und schreibt schön; werdet Schulmeister hier im Dorfe! Friederiken könnt ihr vermiethen. Da hab' ich noch eine Kleiderkammer, darein will ich ein Bett stellen, so könnt ihr bei mir wohnen, und also immer bey euren Kindern seyn.«
     Euer Anerbieten, Mitvater, ist sehr gut; ich werd' es auch annehmen, wenn ich nur noch einen Versuch werde gemacht haben.
     »Macht keine Probe mehr, Mitvater! sie wird euch gewiß fehlen. Aber laßt uns von etwas anders reden. Ich bin ein so großer Liebhaber von der Sternwissenschaft; kennt ihr auch wohl den Sirius im großen Hund?«
     Ich bin eben kein Sternkundiger, doch aber kenn ich ihn.
     »Er steht gemeiniglich des Abends gegen Mittag. Er flammt so grünröthlich. Wie weit mag der wohl von der Erde seyn? Sie sagen, er soll wohl noch viel höher seyn als die Sonne.«
     O! wohl tausendmal höher!
     »Wie ist das möglich? Ich bin so ein Liebhaber von den Sternen. Ich meyn' immer, ich war schon dabei wenn ich sie besehe. Aber kennt ihr auch den Wagen und den Pflug?«
     Ja, man hat sie mir wohl gewiesen.
     »O welch ein wunderbarer Gott.«
     Margrethe Stillings hörte dieses Gespräch; sie kam und setzte sich bei ihrem Mann. Ach Ebert! sagte sie, ich kann wohl an einer Blume seh'n, daß Gott wunderbar ist. Laßt uns die begreifen lernen! Wir wohnen bei dem Gras und den Blumen; die laßt uns hier bewundern; wann wir im Himmel sind, dann wollen wir die Sterne betrachten.
     Das ist recht, sagte Moriz, es sind so viele Wunder in der Natur; wenn wir die recht betrachten, so können wir die Weisheit Gottes wohl kennen lernen. Doch ein jeder hat so etwas, wozu er besonders Lust hat.
     So vertrieben die Hochzeitgäste den Tag. Wilhelm Stilling und seine Braut verfügten sich auch nach Hause, und fingen ihren Ehestand an; wovon ich im folgenden Capitel mehreres werde sagen.
     Stillings Töchter aber saßen in der Dämmerung unter dem Kirschbaum und sungen folgendes schöne weltliche Liedlein:

   Es ritt ein Ritter wohl über's Feld.
   Er hatte kein'n Freund, kein Gut, kein Geld.
   Sein Schwesterlein war hübsch und fein.
   »Ach Schwesterlein! ich sage dir Adie.
   Ich sehe dich ja nimmermehr.
   Ich reite weg, in ein fremdes Land.
   Reich du mir deine weiße Hand!«
   Adie! Adie! Adie!

   Ich sah, mein schönstes Brüderlein,
   Ein buntig, artig Vögelein.
   Es hüpfte im Wacholderbaum.
   Ich warfs mit meinem Ringelein,
   Es nahm ihn in sein Schnäbelein
   Und flog weg in den Walde fort;
   Mein Ringelein war ewig fort.
   Adie! Adie! Adie!

   »Schließ du dein Schloß wohl feste zu,
   Halt dich fein still in guter Ruh.
   Laß niemand in dein Kämmerlein!
   Der Ritter mit dem schwarzen Pferd
   Hat dich zumalen lieb und werth.
   Nimm dich vor ihm gar wohl in Acht!
   Mannich Mägdlein hat er zu Fall gebracht.«
   Adie! Adie! Adie!

   Das Mägdlein weinte bitterlich,
   Der Bruder sah noch hinter sich,
   Und grüßte sie noch einmal schön.
   Da ging sie in ihr Kämmerlein,
   Und konnte da nicht frölich seyn.
   Den Ritter mit dem schwarzen Pferd.
   Hätt' sie vor allem lieb und werth.
   Adie! Adie! Adie!

   Der Ritter mit dem schwarzen Roß
   Hätt' Güter und viel Reichthum groß.
   Er kame zum Jungfräulein zart.
   Er kame oft um Mitternacht
   Und gienge wann der Tag anbrach.
   Er führt sie in sein Schlösselein
   Zum anderen Jungfräulein fein.
   Adie! Adie! Adie!

   Sie kam dahin in schwarzer Nacht.
   Sie sah daß er zu Fall gebracht
   Viel edele Jungfrauen zart.
   Sie nahm wohl einen kühlen Wein
   Und goß ein schnödes Gift hinein
   Und trunk's dem schwarzen Ritter zu.
   Es giengen beiden die Aeugelein zu.
   Adie! Adie! Adie!

   Sie begruben den Ritter im Schlosse fein,
   Das Mägdlein inbey ein Brünnelein.
   Sie schläft da im kühlen Gras.
   Um Mitternacht da wandelt sie umher
   Am Mondeschein dann seufzet sie so sehr.
   Sie wandelt da in weisigem Kleid
   Und klaget da dem Wald ihr Leid.
   Adie! Adie! Adie!

   Der edle Bruder eilt herein
   Bey diesem klaren Brünnelein,
   Und sah' es sein Schwesterlein zart.
   Was machst du mein Schwesterlein allhier?
   Du seufzest so, was fehlt dann dir?
   »Ich hab den Ritter in schwarzer Nacht,
   Und mich, mit bösem Gift umgebracht.«
   Adie! Adie! Adie!

   Wie Nebel in dem weiten Raum
   Flog auf das Mägdlein durch den Baum.
   Man sah' sie wohl nimmermehr.
   Ins Kloster gieng der Rittersmann
   Und fing ein frommes Leben an.
   Da betete er vor's Schwesterlein
   Auf daß sie möchte selig seyn.
   Adie! Adie! Adie!

Eberhard Stilling und Margrethe, seine eheliche Hausfrau erlebten nun eine neue Periode in ihrer Haushaltung. Da war nun ein neuer Hausvater und eine neue Hausmutter in ihrer Familie entstanden. Die Frage war also: Wo sollen diese beide sitzen, wenn wir speisen? - Um die Dunkelheit im Vortrag zu vermeiden, muß ich erzählen, wie eigentlich Vater Stilling seine Ordnung und Rang am Tische beobachtete. Oben in der Stube war eine Bank von einem eichenen Bret längs der Wand genagelt, die bis hinter den Ofen reichte. Vor dieser Bank dem Ofen gegen über stund der Tisch, als Klappe an die Wand befestigt, damit man ihn an dieselbe aufschlagen konnte. Er war aus einer eichenen Diele von Vater Stilling selbsten ganz fest und treuherzig ausgearbeitet. An diesem Tisch saß Eberhard Stilling oben an der Wand, wo er durch das Brett befestigt war, und zwar vor demselben. Vielleicht darum hatte er sich diesen vortheilhaften Platz gewählt, damit er seinen linken Ellenbogen auf das Bret stützen, und zugleich ungehindert mit der rechten Hand essen könnte. Doch davon ist keine Gewißheit, denn er hat sich nie in seinem Leben deutlich darüber erkläret. An seiner rechten Seiten vor dem Tisch saßen seine vier Töchter, damit sie ungehindert ab und zu gehen könnten. Zwischen dem Tisch und dem Ofen hatte Margrethe ihren Platz; eines Theils weil sie leicht fror, und andern Theils damit sie füglich über den Tisch sehen könnte, ob etwa hier oder dort etwas fehlte. Hinter dem Tisch hatten Johann und Wilhelm gesessen, weil aber der eine verheyrathet war, und der andere Schule hielt, so waren diese Plätze leer, biß jezo, da sie dem jungen Ehepaar, nach reiflicher Ueberlegung, angewiesen wurden.
     Zuweilen kam Johann Stilling seine Eltern zu besuchen. Das ganze Haus freute sich, wann er kam; denn er war ein besonderer Mann. Ein jeder Bauer im Dorf hatte auch Ehrfurcht für ihn. Schon in seiner frühen Jugend hatte er einen hölzernen Teller zum Astrolabium, und eine feine schöne Butterdose von schönem Buchenholz zum Compas umgeschaffen, und von einem Hügel geometrische Observationen angestellt. Denn zu der Zeit ließ der Landesfürst eine Landcharte verfertigen. Johann hatte zugesehen, wann der Ingenieur operirte. Zu dieser Zeit aber war er wirklich ein geschickter Landmesser, wurde auch von Edeln und Unedeln bei Theilung der Güter gebraucht. Große Künstler haben gemeiniglich die Tugend an sich, daß ihr erfinderischer Geist immer etwas neues sucht; daher ist ihnen dasjenige, was sie schon erfunden haben, und was sie wissen, viel zu langweilig, es ferner zu verfeinern. Johann Stilling war also arm; denn was er konnte, versäumte er, um dasjenige zu wissen, was er nicht konnte. Seine gute einfältige Frau wünschte oft, daß ihr Mann seine Künsteleien auf Feld und Wiesen zu verbessern wenden möchte, damit sie mehr Brod hätten. Allein laßt uns der guten Frauen ihre Einfalt verzeihen; sie verstund es nicht besser; wenigstens Johann war klug genug hiezu. Er schwieg oder lächelte.
     Die Quadratur des Zirkels und die immerwährende Bewegung beschäftigten ihn zu dieser Zeit. War er nun in ein Geheimniß tiefer eingedrungen, so lief er geschwind nach Tiefenbach um seinen Eltern und Geschwistern seine Entdeckung zu erzählen. Kam er denn unten durchs Dorf herauf, und es erblickte ihn jemand aus Stillings Hause, so lief man gleich und rief alle zusammen, um ihn an der Thüre zu empfangen. Ein jedes arbeitete dann mit doppeltem Fleiß, um nach dem Abendessen nichts mehr zu thun zu haben. Dann setzte man sich um den Tisch, stützte die Ellenbogen drauf, und die Hände an die Backen, aller Augen waren auf Johanns Mund gerichtet.
     Alle halfen denn an der Quadratur des Zirkels erfinden; selbst der alte Stilling verwendete vielen Fleiß auf diese Sache. Ich würde dem erfinderischen, oder besser, dem guten und natürlichen Verstande dieses Mannes Gewalt anthun, wenn ich sagen sollte: er hätte nichts in dieser Sache geleistet. Bei seinem Kohlenbrennen beschäftigte er sich damit. Er zog eine Schnur um sein Birnmostfaß, schnitt sie mit seinem Brodmesser ab; sägte dann ein Bret genau vierkantig, und schabte es so lange, bis die Schnur just drum paßte. Nun mußte ja das viereckigte Bret genau so groß seyn, als der Zirkel des Mostfasses. Eberhard sprang auf einem Fuß herum, verlachte die großen gelehrten Köpfe, daß sie aus dem einfältigen Dinge so viel Werks machten, und erzählte bei nächster Gelegenheit seinem Johann die Erfindung. Wir wollen die Wahrheit gestehn. Vater Stilling hatte wohl nichts höhnisches in seinem Charakter; doch lief hier eine kleine Satyre mit unter; aber der Landmesser machte bald der Freude ein Ende, indem er sagte: Es ist die Frage nicht, Vater! ob ein Schreiner einen viereckigten Kasten machen könne, der just so viel Haber enthalte, als eine runde cylindrische Tonne; sondern es muß ausgemacht seyn, wie sich der Diameter des Zirkels gegen seine Peripherie verhalte, und dann, wie groß eine Seite des Quadrats seyn müsse, wann es so groß als der Zirkel seyn soll. Aber in beiden Fällen darf an einem Facit nicht der tausendste Theil eines Haars fehlen. Es muß in der Theorie durch die Algeber bewirkt werden können, daß es wahr ist.
     Der alte Stilling würde sich geschämt haben, wenn nicht die Gelehrsamkeit seines Sohns, und seine unmäßige Freude darüber, alles Schämen bey ihm verdrängt hätte. Er sagte deswegen nichts weiter, als: Mit Gelehrten ist nicht gut disputiren; lachte, schüttelte den Kopf, und fuhr fort von einem birkenen Klotz Späne zu schneiden, womit man Feuer und Lichter, auch allenfalls eine Pfeife Tobak anzünden konnte. Dieses war so seine Beschäftigung bei müßigen Stunden.
     Stillings Töchter waren stark und arbeitsam. Sie pflegten die Erde, und sie gab ihnen reichliche Nahrung im Garten und Felde. Dortchen aber hatte zarte Glieder und Hände, sie wurde geschwind müde, und dann seufzte sie und weinte. Unbarmherzig waren nun die Mädchen eben nicht; aber sie konnten doch nicht begreifen, warum ein Weibsmensch, das eben so groß als ihrer eine war, nicht auch eben so gut sollte arbeiten können. Doch mußte ihre Schwägerin oft ausruhen, auch sagten sie ihren Eltern niemals, daß sie kaum ihr Brod verdiente. Wilhelm sah es bald ein; er erhielt daher von der ganzen Familie, daß seine Frau ihm am Nähen und Kleidermachen helfen sollte. Dieser Vertrag wurde geschlossen, und alle befanden sich wohl dabei.
     Der alte Pastor Moriz besuchte nun auch zum erstenmal seine Tochter. Dortchen weinte für Freuden wie sie ihn sah, und wünschte Hausmutter zu seyn, um ihm recht gütlich thun zu können. Er saß den ganzen Nachmittag bei seinen Kindern, und redete mit ihnen von geistlichen Sachen. Er schien ganz verändert, kleinmüthig und betrübt zu seyn. Gegen Abend sagte er: Kinder! führt mich einmal auf das Geißenberger Schloß. Wilhelm legte seinen eisernen schweren Fingerhut ab, und spuckte in die Hände; Dortchen aber steckte ihren Fingerhut an den kleinen Finger, und nun stiegen sie zum Wald auf. Kinder! sagte Moriz, mir ist hier so wohl unter dem Schatten der Maibuchen. Je höher wir kommen, je freier werd' ich. Es ist mir eine Zeit her gewesen, als einem der nicht zu Hause ist. Dieser Herbst muß wohl der letzte meines Lebens seyn. Wilhelm und Dortchen hatten Thränen in den Augen. Oben auf dem Berge, wo sie biß an den Rhein, und die ganze Gegend übersehen konnten, setzten sie sich an eine zerfallene Mauer des Schlosses. Die Sonne stand in der Ferne nicht hoch mehr über dem blauen Gebürge. Moriz sah starr dorthin, und schwieg lange; auch sagten seine Begleiter nicht ein Wort. Kinder! sprach er endlich, ich hinterlaß euch nichts, wenn ich sterbe. Ihr könnt mich wohl missen. Niemand wird um mich weinen. Ich habe mein Leben mühsam und unnütz zugebracht, und niemand glücklich gemacht. Mein lieber Vater! antwortete Wilhelm, ihr habt doch mich glücklich gemacht. Ich und Dortchen werden herzlich um euch weinen. Kinder! versetzte Moriz, unsere Neigungen führen uns leicht zum Verderben. Wie viel würde ich der Welt haben nutzen können, wenn ich kein Alchymist geworden wäre! Ich würde euch und mich glücklich gemacht haben! (Er weinte laut.) Doch denke ich immer daran, daß ich meinen Fehler erkannt habe, und nun noch will ich mich ändern. Gott ist ein Vater, auch über die irrende Kinder. Nun höret noch eine Ermahnung von mir, und folgt derselben: Alles was ihr thut, das überlegt vorher wohl, ob es auch andern nützlich seyn könne. Findet ihr, daß es nur euch dienlich ist, so denkt: das ist ein Werk ohne Belohnung. Nur wo wir dem Nächsten dienen, da belohnt uns Gott. Ich habe arm und unbemerkt in der Welt dahingewandelt, und wann ich todt bin, dann wird man meiner bald vergessen; ich aber werde Barmherzigkeit finden vor dem Thron Christi, und selig seyn. Nun gingen sie wieder nach Haus, und Moriz blieb immer traurig. Er ging umher, tröstete die Armen und betete mit ihnen. Auch arbeitete er und machte Uhren, womit er sein Brod erwarb, und noch etwas übrig behielt. Doch dieses währte nicht lange, denn den folgenden Winter verlohr man ihn; man fand ihn nach dreien Tagen unter dem Schnee und war todt gefroren.
     Nach diesem traurigen Zufall entdeckte man in Stillings Hause eine wichtige Neuigkeit. Dortchen war gesegneten Leibes, und jedermann freuete sich auf ein Kind, deren in vielen Jahren kein's im Hause gewesen war. Mit was für Mühe und Fleiß man sich auf Dortchens Entbindung gerüstet, ist nicht zu sagen. Der alte Stilling selbst freuete sich auf einen Enkel, und hoffte noch einmal vor seinem Ende seine alte Wiegenlieder zu singen, und seine Erziehungskunst zu beweisen.
     Nun nahte der Tag der Niederkunft heran, und 1740 den 12ten September, Abends um 8 Uhr, wurde Henrich Stilling gebohren. Der Knabe war frisch, gesund und wohl, und seine Mutter wurde gleichfalls, gegen die Weissagungen der Tiefenbacher Sybillen, geschwind wieder besser.
     Das Kind wurde in der Florenburger Kirche getauft. Vater Stilling aber, um diesen Tag feyerlicher zu machen, richtete ein Mahl an, bei welchem er den Herrn Pastor Stollbein zu sehen wünschte. Er schickte daher seinen Sohn Johann ans Pfarrhaus, und ließ den Herrn ersuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um seinem Mahle beizuwohnen. Johann gieng, er that schon den Hut ab, als er in den Hof kam, um nichts zu versehen; aber leider, wie oft ist alle menschliche Vorsicht unnütz! Es sprang ein großer Hund hervor; Johann Stilling griff einen Stein, warf, und traf den Hund in eine Seite, daß er abscheulich zu heulen anfing. Der Pastor sah durchs Fenster was passirte; voll von Eifer sprang er heraus, knüpfte dem armen Johann eine Faust vor die Nase; Du lumpigter Flegel! krisch er, ich will dich lernen meinem Hund begegnen! Stilling antwortete: Ich wußte nicht, daß es Ew. Ehrwürden Hund war. Mein Bruder und meine Eltern lassen den Herrn Pastor ersuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um der Taufmahlzeit beizuwohnen. Der Pastor ging und schwieg still. Doch murrte er aus der Hausthür zurück: Wartet, ich will mitgehen. Er wartete fast eine Stunde im Hof, liebkosete den Hund, und das arme Thier war auch wirklich versöhnlicher, als der große Gelehrte, der nun aus der Hausthüre herausging. Der Mann wandelte mit Zuversicht an seinem Rohrstab. Johann trabte furchtsam hinter ihm mit dem Hut unterm Arm; den Hut aufsetzen war eine gefährliche Sache; denn er hatte in seiner Jugend manche Ohrfeige von dem Pastor bekommen, wenn er ihn nicht früh genug, das ist, so bald er ihn in der Ferne erblickte, abgezogen hatte. Doch aber eine ganze Stunde lang mit bloßem Haupt, im September, unter freiem Himmel zu gehen, war doch auch entsetzlich! Daher sann er auf einen Fund wie er füglich seinen Kopf bedecken möchte. Plötzlich fiel der Herr Stollbein zur Erde, daß es platschte. Johann erschrack. Ach! rief er, Herr Pastor, habt ihr euch Schaden gethan? Was gehts euch an, Schlingel! war die heldenmüthige Antwort dieses Mannes, indem er sich aufrafte. Nun gerieth Johanns Feuer in etwas in Flammen, daß er herausfuhr: So freue ich mich denn herzlich, daß ihr gefallen seyd, und lächelte noch dazu. Was! Was! rief der Pastor. Aber Johann setzte den Hut auf, ließ den Löwen brüllen, ohne sich zu fürchten, und gieng. Der Pastor gieng auch, und so kamen sie denn endlich nach Tiefenbach.
     Der alte Stilling stund vor der Thüre, mit bloßem Haupt; seine schönen grauen Haare spielten am Mund; er lächelte den Herrn Pastor an, und sagte, indem er ihm die Hand gab: Ich freue mich, daß ich in meinem Alter den Herrn Pastor an meinem Tisch sehen soll; aber ich würde so kühn nicht gewesen seyn, wenn meine Freude über einen Enkel nicht so groß wäre. Der Pastor wünschte ihm Glück, doch mit angehängter wohlmeinender Drohung, daß, wenn ihn nicht der Fluch des Eli treffen sollte, er mehr Fleiß auf die Erziehung seiner Kinder anwenden müßte. Der Alte stund da in seinem Vermögen und lächelte, doch schwieg er stille und führte Seine Ehrwürden in die Stube. Ich will doch nicht hoffen, sagte der Herr Pastor, daß ich hier unter dem Schwarm von Bauren speisen soll. Vater Stilling antwortete: Hier speißt niemand, als ich und meine Frau und Kinder, ist euch das ein Baurenschwarm? Ei, was anders! antwortete jener. So muß ich euch erinnern, Herr! - versetzte Stilling, daß ihr nichts weniger als ein Diener Christi, sondern ein Pharisäer seyd. Er saß bei den Zöllnern und Sündern, und aß mit ihnen. Er war überall klein und niedrig und demüthig. Herr Pastor! ... meine grauen Haare richten sich in die Höhe; setzt euch oder geht wieder. Hier pocht etwas, ich möchte mich sonst an eurem Kleide vergreifen, wofür ich doch sonsten Respekt habe ... Hier! Herr! hier vor meinem Hause ritt der Fürst vorbei; ich stund da vor meiner Thür; er kannte mich. Da sagte er: Guten Morgen, Stilling! Ich antwortete: Guten Morgen, Ihr Durchlaucht! Er stieg vom Pferd, er war müde von der Jagd. Hohlt mir einen Stuhl, sprach er, hier will ich ein wenig ruhen. Ich habe eine luftige Stube, antwortete ich, gefällt es Ihro Durchlaucht in die Stube zu gehen, und da bequem zu sitzen? Ja! sagte er. Der Oberjägermeister gieng mit hinein. Da saß er, wo ich euch meinen besten Stuhl hingestellt habe. Meine Margrethe mußte ihm fette Milch einbrocken und ein Butterbrod machen. Wir beiden mußten mit ihm essen, und er versicherte, daß ihm niemalen eine Mahlzeit so gut geschmeckt habe. Wo Reinlichkeit ist, da kann ein jeder essen. Nun entschließt euch, Herr Pastor! - Wir alle sind hungrig. Der Pastor setzte sich und schwieg still. Da rief Stilling allen seinen Kindern, aber keines wollte kommen, auch selber Margrethe nicht hinein. Sie füllte dem Prediger ein irdenes Kümpchen mit Hünerbrüh, gab ihm einen Teller Cappes mit einem hübschen Stück Fleisch und einem Krug Bier. Stilling trug es selber auf; der Pastor aß und trank geschwind, redete nichts, und ging wieder nach Florenburg. Nun setzte sich alles zu Tische. Margrethe betete, und man speisete mit größtem Appetit. Auch selbst die Kindbetterin saß an Margrethens Stelle mit ihrem Knaben an der Brust. Denn Margrethe wollte ihren Kindern selbst dienen. Sie hatte ein sehr feines weißes Hemd, welches noch ihr Brauthemd war, angezogen. Die Ermel davon hatte sie bis hinter die Ellenbogen aufgewickelt. Von feinem schwarzen Tuch hatte sie ein Leibchen und Rock, und unter der Haube stunden graue Locken hervor, schön gepudert von Ehre und Alter. Es ist würklich unbegreiflich, daß während der ganzen Mahlzeit nicht ein Wort vom Pastor geredt wurde; Doch halte ich davor, die Ursache war, daß Vater Stilling nicht davon anfing.
     Indem man so da saß und mit Vergnügen speiste, klopfte eine arme Frau an die Thüre. Sie hatte ein klein Kind auf dem Rücken in einem Tuch hängen, und bat um ein Stücklein Brod. Mariechen war hurtig. Die Frau kam in zerlumpten besudelten Kleidern, die aber doch die Form hatten, als wenn sie ehemals einem vornehmen Frauenzimmer zugehört hätten. Vater Stilling befahl, man sollte sie an die Stubenthüre sitzen lassen, und ihr von allem etwas zu essen geben. Dem Kinde kannst du etwas Reisbrei zu essen darreichen, Mariechen, sagte er ferner. Sie aß und es schmeckte ihr herzlich gut. Nachdem nun sie und ihr Kind satt waren, dankte sie mit Thränen und wollte gehen. Nein! sagte der alte Stilling, sitzet und erzählet uns, wo ihr her seyd, und warum ihr so gehen müßt. Ich will euch auch Bier zu trinken geben. Sie setzte sich und erzählte.
     Ach lieber Gott! sprach sie. Leider ja! muß ich so gehen (Stillings Mariechen hatte sich neben sie, doch etwas von ihr abgesetzt, sie horchte mit größter Aufmerksamkeit, auch waren ihre Augen schon feucht). Ich bin ja leider ein armes Mensch. Vor zehn Jahren möchtet ihr Leute euch wohl eine Ehre draus gemacht haben, wann ich mit euch gespeist hätte.
     Wilhelm Stilling. Das wäre!
     Johann Stilling. Es sey denn, daß ihr eine Stollbeinische Natur gehabt hättet.
     Vater Stilling. Seyd still, Kinder! Lasset die Frau reden!
     »Mein Vater ist Pastor zu -«
     Mariechen. Jemini! Euer Vater ein Pastor? (sie rückt näher.)
     »Ach ja! Freilich ist er Pastor. Ein sehr gelehrter und reicher Mann.«
     Vater Stilling. Wo ist er Pastor?
     »Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja!«
     Johann Stilling. Das muß ich doch auf der Landcharte suchen. Das muß nicht weit vom Mühlersee seyn, oben an der Spitze, gegen Septentrio zu.
     »Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei, der Schlendrian heißt.«
     Mariechen. Unser Johann sagte nicht Schlendrian. Wie sagtest du?
     Vater Stilling. Redet ihr fort! St! Kinder!
     »Nun war ich dazumal eine hübsche Jungfer, hatte auch schöne Gelegenheiten zu heyrathen« (Mariechen besah sie vom Haupt bis zum Fuß.) »allein keiner war meinem Vater recht. Der war ihm nicht reich genug, der andere nicht vornehm genug, der dritte ging nicht viel in die Kirche.«
     Mariechen. Sage, Johann, wie heißen die Leute die nicht in die Kirche gehen?
     Johann Stilling. St! Mädchen! Separatisten.
     »Gut! was soll mir geschehn, ich sahe wohl, ich würde keinen bekommen, wann ich mir nicht selber hülfe. Da war ein junger Barbiergesell. -«
    Mariechen. Was ist das, ein Barbiergesell?
     Wilhelm Stilling. Schwesterchen, frag hernach um alles. Laß jetzt nur die Frau reden. Es sind Bursche die den Leuten den Bart abmachen.
     »Das bitte ich mir aus, hat sich wohl! Mein Mann konnte, trotz dem besten Doktor, kuriren. Ach ja! viel, viel Kuren that er. Kurz, ich ging mit ihm fort. Wir setzten uns zu Spelterburg. Das liegt am Spafluß.«
     Johann Stilling. Ja, da liegt es. Ein paar Meilen herauf, wo die Milder hineinfließt.
     »Ja, da liegts. Ich unglückliches Mensch! - Da wurde ich gewahr, daß mein Mann mit gewissen Leuten Umgang hatte.«
     Mariechen. Waret ihr schon kopulirt?
     »Wer wollte uns kopuliren? lieber Gott! O ja nicht! -« (Mariechen rückte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frauen ab) »Ich wollte es absolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war. -« Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief was sie laufen konnte.
     Vater Stilling, seine Frau und Kinder, konnten nicht begreifen, warum die Frau mitten in der Erzählung abbrach und davon lief. Es gehörte auch wirklich eine wahre Logik dazu, die Ursachen einzusehen. Ein jeder gab seine Stimme, doch waren alle Ursachen zweifelhaft. Das vernünftigste Urtheil, und zugleich auch das wahrscheinlichste, war wohl, daß der Frauen von dem vielen und ungewohnten Essen etwas übel geworden, und man beruhigte sich auch dabei. Vater Stilling zog aber, seiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieser Erzählung, daß es am besten sey, seinen Kindern Religion und Liebe zur Tugend einzuprägen, und dann im gehörigen Alter ihnen die freie Wahl im Heurathen zu vergönnen, wenn sie nur so wählten, daß die Familie nicht wirklich dadurch geschimpft würde. Ermahnen, sagte er, müssen freilich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr, wenn der Mensch sein männliches Alter erreicht hat; er glaubt alsdenn alles so gut zu verstehen als seine Eltern.
     Während dieser weisen Rede, wobei alle Anwesenden höchst aufmerksam waren, saß Wilhelm in tiefen Betrachtungen. Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und sahe starr gerade vor sich hin. Hum! sagte er, alles, was die Frau erzählt hat, scheint mir verdächtig. Im Anfang sagte sie, ihr Vater wäre Pastor zu ... zu ...
     Mariechen. Zu Holdingen im Barchinger Land.
     Ja, da war es. Und am Ende sagte sie, ihr Vater sey ein Schuhflicker gewesen. Alle Anwesende schlugen die Hände zusammen, und entsetzten sich sehr. Nun erkannte man, warum die Frau weggelaufen war; man entschloß sich also, an jeder Thüre und Oefnung im Hause vorsichtige Klinken und Klammern zu machen, und das wird auch niemand der Stillingschen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zusammenhang der Dinge einzusehen gelernt hat. [chi era il padre della sconosciuta? Böhme?]
     Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum? kann ich eben nicht sagen. Sie säugte ihren Henrich alle Augenblicke, denn das war nun einmal ihr Alles. Der Junge war auch hübsch dick und fett. Die erfahrenste Nachbarinnen konnten schon gleich nach der Geburt in dem Gesichte des Kindes eine völlige Aehnlichkeit mit seinem Vater entdecken. Besonders aber wollte man auch schon auf dem linken obern Augenlied die Grundlage einer künftigen Warze spüren, als welche der Vater daselbst hatte. Dennoch aber mußte eine verborgene Partheilichkeit alle Nachbarinnen zu diesem falschen Zeugniß bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der Mutter Gesichtszüge und ihr sanftes gefühliges Herz gänzlich.
     Vor und nach verfiel Dortchen in eine sanfte Schwermuth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnügen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beständig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz schien sich ganz in Thränen zu verwandeln, in Thränen ohne Harm und Kummer. Gieng die Sonne schön auf, so weinte sie, und betrachtete sie tiefsinnig; sprach auch wohl zuweilen: Wie schön muß der seyn, der sie gemacht hat! Gieng sie unter, so weinte sie. Da gehet der tröstliche Freund wieder von uns, sagte sie dann oft, und sehnte sich weit weg in den Wald, zur Zeit der Dämmerung. Nichts aber war ihr rührender, als der Mond; sie fühlte dann was unaussprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geisenberg. Wilhelm begleitete sie fast immer und redete sehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas ähnliches in ihrem Charakter. Sie hätten die ganze Welt voll Menschen missen können, nur eins das andere nicht; dennoch empfanden sie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenschen.
     Beinahe anderthalb Jahr war Henrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann ersuchte, mit ihr nach dem Geisenberger Schlosse zu spazieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeschlagen. Er ging mit ihr. So bald sie in den Wald kamen, schlungen sie sich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Bäume, und dem vielfältigen Zwitschern der Vögel den Berg hinauf. Dortchen fing an:
     »Was meinst du, Wilhelm, sollte man sich wohl im Himmel kennen?«
     O ja! liebes Dortchen! Christus sagt ja, von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hölle; daher glaub ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen.
     »O Wilhelm! wie sehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kummer, in lauter himmlischer Lust und Vergnügen werden bei einander seyn! Mich dünkt auch immer, ich könnte im Himmel ohne dich nicht seelig seyn. Ja, lieber Wilhelm! gewiß! gewiß werden wir uns da kennen! Hör einmal, ich wünsche das nun so herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das so wünschet; er würde es nicht so gemacht haben, wenn ich unrecht wünschte, und wenn es nicht so wäre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menschen suchen, und dann werd ich seelig seyn!«
     Wir wollen uns bei einander begraben lassen, so brauchen wir nicht lange zu suchen.
     »O möchten wir doch in einem Augenblick sterben. Aber wo bliebe dann mein lieber Junge?«
     Der würde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und endlich zu uns kommen.
     »Ich würde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er auch fromm werden würde.«
     Höre, Dortchen! du bist schon lange her, so besonders schwermüthig gewesen. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, du machst mich mit dir betrübt. Warum bist du so gern mit mir allein! Meine Schwestern glauben, du habest sie nicht lieb.
     »Doch liebe ich sie recht von Herzen.«
     Du weinst oft, als wenn du mißmuthig wärest; das thut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Hast du etwas auf dem Herzen, liebes Kind - das dich quält? Sag es mir. Ich werde dir Ruhe schaffen, es koste auch was es wolle.
     »O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unsere Eltern und Schwestern lieb, ja, ich habe alle Menschen lieb. Aber ich will dir sagen, wie es mir ist. Wenn ich im Frühling sehe, wie alles aufgeht, die Blätter an den Bäumen, die Blumen und die Kräuter, so ist mir, als wenn es mich gar nicht angienge; es ist mir dann, als wenn ich in einer Welt wäre, worinn ich nicht gehörte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder dürres Kraut finde, dann werden mir die Thränen los, und mir wird so wohl, so wohl, daß ich es dir nicht sagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonsten machte mich das alles betrübt, und ich war nie fröhlicher, als im Frühling.«
     Ich kenne das nicht. So viel aber ist doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht.
     Indem sie so redeten, kamen sie zu den Ruinen des Schlosses auf die Seite des Berges, und empfanden die kühle Luft vom Rhein her, und sahen wie sie mit den langen dürren Grashalmen und Epheublättern an den zerfallenen Mauren spielte und darum pfiff. Hier ist recht mein Ort, sagte Dortchen, hier müßt ich wohnen. Erzähle mir doch noch einmal die Geschichte vom Johann Hübner, der hier auf dem Schlosse gewohnt hat. Laß uns aber hier auf den Wall gegen die Mauren über sitzen. Ich dürfte um die Welt nicht zwischen den Mauern seyn, wenn du das erzählest, denn ich graue immer, wenn ich's höre. Wilhelm erzählte:

[...]

Dortchen zitterte, und fuhr zusammen, wenn ein Vogel aus einem Strauch in die Höhe flog. Ich höre die Erzählung noch immer gern, sagte sie; wenn ich hier so sitze, und wenn ich es noch zehnmal höre, so werde ich es doch nicht müde. Laßt uns ein wenig um den Wall spazieren. Sie gingen zusammen um den Wall und Dortchen sang:

   Es leuchten drei Sterne über ein Königes Haus.
   Drei Jungfräulein wohnten darinn::
   Ihr Vater war weit über Land hinaus
   Auf ein'm weißen Rösselein.
   Sternelein blinzet zu Leide.

   Siehst du es, das weiße Rößlein, noch nicht,
   Ach Schwesterlein, muthig im Thal?::
   Ich seh es, mein's Vaters Rösselein, licht,
   Es trabet da muthig im Thal.
   Sternelein blinzet zu Leide.

   Ich seh es, das Rößlein, mein Vater nicht drauf.
   Ach Schwesterlein! Vater ist todt!::
   Mein Herzel ist mir es betrübet.
   Wie ist mir der Himmel so roth!
   Sternelein blinzet zu Leide.

   Da trat ein Reuter im blutigen Rock
   In's dunkle Kämmerlein klein::
   Ach, blutiger Mann, wir bitten dich hoch,
   Laß leben uns Jungfräuelein.
   Sternelein blinzet zu Leide!

   Ihr könnt nicht leben, ihr Jungfräulein zart;
   Mein Weiblein frisch und schön::
   Erstach mir eu'r Vater im Garten so hart,
   Ein Bächlein von Blut floß daher.
   Sternelein blinzet zu Leide.

   Ich fand ihn, den Mörder, im Walde grün,
   Ich nahm ihm sein Rößlein ab::
   Und stach ihm das Messer ins Herz;
   Er fiel drauf den Felsen herab.
   Sternelein blinzet zu Leide!

   Auch hatt'st du die liebe Mutter mein
   Getödtet am holigen Weg::
   Ach, Schwesterlein, lasset uns frölich seyn!
   Wir sterben ja wundergern.
   Sternelein blinzet zu Leide!

   Der Mann nahm ein Messer scharf und spitz,
   Und stieß es den Jungfräulein zart::
   In ihr betrübtes Herzelein,
   Zur Erde fielen sie hart.
   Sternelein blinzet zu Leide!

   Herunter im grünigen Thal::
   Da fließet ein klares Bächelein hell
   Fließ krumm herum, du Bächlein hell,
   Bis in die weite See!
   Sternelein blinzet zu Leide!

   Da schlafen die Jungfräulein alle drei
   Bis an den jüngsten Tag::
   Sie schlafen da in kühliger Erd'
   Bis an den jüngsten Tag.
   Sternelein blinzet zu Leide!

Nun begann die Sonne unterzugehen, und Dortchen mit ihrem Wilhelm hatten recht die Wonne der Wehmuth gefühlt. Wie sie den Wald hinab gingen, durchdrang ein tödtlicher Schauer Dortchens ganzen Leib. Sie zitterte von einer kalten Empfindung, und es ward ihr sauer Stillings Haus zu erreichen. Sie verfiel in ein hitziges Fieber. Wilhelm war Tag und Nacht bey ihr. Nach vierzehn Tagen sagte sie des Nachts um zwölf Uhr zu Wilhelmen: Komm, lege dich zu Bette. Er zog sich aus, und legte sich zu ihr. Sie faßte ihn in ihren rechten Arm, er lag mit seinem Kopf an ihre Brust. Auf einmal wurde er gewahr, daß das Pochen ihres Pulses nachließ, und dann wieder ein paarmal klopfte. Er erstarrte und rief seelzagend! Mariechen! Mariechen! Alles wurde wacker und lief herzu. Da lag Wilhelm und empfieng Dortchens letzten Athemzug in seinen Mund. Sie war nun todt. Wilhelm war betäubt, und seine Seele wünschte nicht wieder zu sich selbst zu kommen; doch endlich stieg er aus dem Bette, weinte und klagte laut. Selbst Vater Stilling und seine Margrethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen fest zu, und schluchzeten. Es sah betrübt aus, wie die beiden alten Grauköpfe naß von Thränen zärtlich auf den verblichenen Engel blickten. Auch die Mädchen weinten laut, und erzählten sich untereinander alle die letzten Worte und Liebkosungen die ihnen ihre seelige Schwägerin gesagt hatte.
Wilhelm Stilling hatte mit seinem Dortchen in der stark bevölkerten Landschaft allein gelebt; nun war sie todt und begraben, und er fand daher, daß er jetzt ganz allein in der Welt lebte. Seine Eltern und Geschwister waren um ihn, ohne daß er sie bemerkte. In dem Gesichte seines verwaiseten Kindes, sahe er nur Dortchens Lineamente; und wenn er des Abends schlafen ging, so fand er sein Zimmer still und öde. Oft glaubte er den rauschenden Fuß Dortchens zu hören, wie sie ins Bette stieg. Er fuhr dann in einander, Dortchen zu sehen, und sah sie nicht. Er durchdachte alle Tage die sie mit einander gelebet hatten, fand in jedem ein Paradies, und verwunderte sich, daß er nicht damalen vor lauter Wonne gejauchzt hatte. Dann nahm er seinen Henrichen in die Arme, weinte ihn naß, drückte ihn an seine Brust, und schlief mit ihm. Dann träumte er oft, wie er mit Dortchen im Geisenberger Wald spaziere, wie er so froh sey, daß er sie wieder habe. Im Traum fürchtete er wacker zu werden, und dennoch erwachte er: seine Thränen wurden dann neu und sein Zustand war trostlos. Vater Stilling sah das alles, und doch tröstete er seinen Wilhelmen niemals. Margarethe und die Mädchen versuchten es oft, aber sie machten nur übel ärger; denn, alles beleidigte Wilhelmen, was nur dahin zielte ihn aus seiner Trauer zu ziehen. Sie konnten aber gar nicht begreifen wie es doch möglich seyn könnte, daß ihr Vater gar keine Mühe anwendete Wilhelmen aufzumuntern. Sie vereinigten sich daher ihren Vater dazu zu ermahnen, so bald Wilhelm einmal im Geisenberger Wald herumirren, und seines Dortchens Gänge und Fußtritte aufsuchen und beweinen würde. Das that er oft, und daher währete es nicht lange, bis sie Gelegenheit fanden ihr Vorhaben auszuführen. Margarethe nahm es auf sich, so bald der Tisch abgetragen und Wilhelm fort war, Vater Stilling aber an seinen Zähnen stocherte, und grade vor sich hin auf einen Fleck sah. Ebert, sagte sie, warum lässest du den Jungen so herum gehen? du nimmst dich seiner gar nicht an, redest ihm nicht ein wenig zu, sondern thust als wenn er dich gar nichts angienge. Der arme Mensch sollte vor lauter Traurigkeit die Auszehrung bekommen. Margret, antwortete der Alte lächelnd, was meinst du wohl, daß ich ihm sagen könnte, ihn zu trösten? Sag ich ihm, er sollte sich zufrieden geben, sein Dortchen sey im Himmel, sie sey selig: so kommt das eben heraus, als wenn dir jemand alles, was du auf der Welt am liebsten hast, abnähme, und ich käme dann her und sagte: Gieb dich zufrieden! deine Sachen sind ja wohl verwahrt, über sechzig Jahr bekommst du sie ja wieder, es ist ein braver Mann der sie hat u.s.w. Würdest du nicht recht bös auf mich werden und sagen: Wo leb ich aber die sechzig Jahr von? Soll ich Dortchens Fehler all aufzählen, und suchen, ihn zu überreden, er habe nichts so gar kostbares verlohren: so würde ich ihre Seele beleidigen, ein Lügner oder Lästerer seyn, weiter aber nichts ausrichten, als Wilhelmen mir auf immer zum Feinde machen; Er würde alle ihre Tugenden dagegen aufzählen, und ich würde in der Rechnung zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen aufsuchen? Das müste just ein Dortchen seyn, und doch würd es ihm vor ihr eckeln. Ach! es giebt kein Dortchen mehr! - Ihm zitterten die Lippen und seine Augen waren naß. Nun weinten sie wieder alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte.
     Bei diesen Umständen war Wilhelm nicht im Stande sein Kind zu versorgen, oder sonst etwas nützliches zu verrichten. Margarethe nahm also ihren Enkel in völlige Verpflegung, futterte und kleidete ihn auf ihre altfränkische Manier aufs reinlichste. Die Mädchen gängelten ihn, lehrten ihn beten und andächtige Reimchen hersagen, und wenn Vater Stilling Samstags Abends aus dem Walde kam und sich bei den Ofen gesetzt hatte, so kam der Kleine gestolpert, suchte auf seine Knien zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn gesparte Butterbrod; mauste auch wohl selbsten im Quersack um es zu finden; es schmeckte ihm besser als sonst der allerbeste Reisbrei Kindern zu thun pfleget, wie wohl es allezeit von der Luft hart und vertrocknet war. Dieses vertrocknete Butterbrod verzehrte Henrich auf seines Großvaters Schos, wobei ihm derselbe entweder das Lied: Gerberli hieß mein Hüneli; oder auch: Reuter zu Pferd, da kommen wir her, vorsang, wobei er immer die Bewegung eines trabenden Pferds mit dem Knie machte. Mit einem Wort! Vater Stilling hatte den Kunstgrif in seiner Kindererziehung, er wuste alle Augenblick eine neue Belustigung für Henrichen, die immer so beschaffen waren, daß sie seinem Alter angemessen, das ist, ihm begreiflich waren; doch so, daß immer dasjenige, was den Menschen ehrwürdig seyn muß, nicht allein nicht verkleinert, sondern gleichsam im Vorbeigang groß und schön vorgestellt wurde. Dadurch gewann der Knabe eine Liebe zu seinem Grosvater die über alles gieng; und daher hatten denn die Begriffe, die er ihm beibringen wollte, Eingang bei ihm. Was ihm sein Grosvater sagte, das glaubte er ohne weiteres Nachdenken.
     Die stille Wehmuth Wilhelms verwandelte sich nun vor und nach in eine gesprächige und vertrauliche Traurigkeit. Nun sprach er wieder mit seinen Leuten; ganze Tage redeten sie von Dortchen, sangen ihre Lieder, besahen ihre Kleider, und dergleichen Dinge mehr. Wilhelm fing an ein Wonnegefühl in ihrem Andenken zu empfinden, und einen Frieden zu schmecken der über alles ging, wenn er sich vorstellte, daß über kurze Jahre auch ihn der Tod würde abfordern, wo er denn, ohne einiges Ende zu befürchten, ewig in Gesellschaft seines Dortchens die höchste Glückseligkeit, deren der Mensch nur fähig ist, würde zu geniessen haben. Dieser große Gedanke zog eine ganze Lebensänderung nach sich, wozu folgender Vorfall noch ein großes mit beitrug. Etliche Stunden von Tiefenbach ab, war ein großes adeliches Haus, welches durch eine Erbschaft an einen gewissen Grafen gefallen war. Auf diesem Schloß hatte sich eine Gesellschaft frommer Leute eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbseidenen Stoffen unter sich angelegt, wovon sie sich nähreten. Was nun kluge Köpfe waren, die die Moden und den Wohlstand in der Welt kannten, oder mit einem Wort, wohllebende Leute, die hatten gar keinen Geschmack an dieser Einrichtung. Sie wusten, wie schimpflich es in der großen Welt wäre, sich öffentlich zu Jesu Christo zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, worinnen man sich ermahnte dessen Lehre und Leben nachzufolgen. Daher waren denn auch diese Leute in der Welt verachtet, und hatten keinen Werth; sogar fanden sich Menschen, die wollten gesehen haben, daß sie auf ihrem Schlosse allerhand Greuel verübten, wodurch dann die Verachtung noch größer wurde. Mehr konnte man sich aber nicht ärgern, als wenn man hörte: daß diese Leute über solche Schmach noch froh waren, und sagten, daß es ihrem Meister eben so ergangen. Unter dieser Gesellschaft war einer Nahmens Niclas, ein Mensch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte Theologie studiert, dabei aber die Mängel aller Systeme entdeckt, auch öffentlich dagegen geredet und geschrieben; weswegen er ins Gefängniß gelegt, hernach aber daraus wieder befreiet worden, und mit einem gewissen Herrn lange auf Reisen gewesen war. Er hatte sich, um ruhig und frei zu leben, unter diese Leute begeben, und da er von ihrem Handwerck nichts verstund, so trug er ihre verfertigte Zeuge weit umher feil, oder, wie man zu sagen pflegt, er ging damit hausieren. Dieser Niclas war oft in Stillings Hause gewesen; weil er aber wuste, wie feste man daselbst an den Grundsätzen der reformirten Religion und Kirche hinge, so hatte er sich nie herausgelassen; zu dieser Zeit aber, da Wilhelm Stilling anfing aus dem schwärzesten Kummer sich loszuwinden, fand er Gelegenheit mit ihm zu reden. Dieses Gespräch ist wichtig; darum will ich es hier beifügen, so wie mirs Niclas selbsten erzählt hat.
     Nachdem sich Niclas gesetzt, fing er an: Wie gehts euch nun Meister Stilling, könnt ihr euch auch in das Sterben eurer Frau schicken?
     »Nicht zu wohl! das Herz ist noch so wund daß es blutet; doch fange ich an mehrern Trost zu finden.«
     So gehts, Meister Stilling, wenn man mit seinen Begierden sich zu sehr an etwas Vergängliches anfesselt. Und wir sind gewiß glücklicher wenn wir Weiber haben, als hätten wir keine. Wir können sie von Herzen lieben; allein wie nützlich ist es doch auch, wenn man sich übet, auch diesem Vergnügen abzusterben, und es zu verläugnen; gewiß wird uns denn der Verlust nicht so schwer fallen.
     »Das läßt sich recht gut predigen, aber thun, thun, leisten, halten, das ist eine andere Sache.«
     Niclas lächelte und sagte: Freilich ist es schwer, besonders wenn man ein solches Dortchen gehabt hat; doch aber wenns nur jemand ein Ernst ist, ja wenn nur jemand glaubt, daß die Lehre Jesu Christi zur höchsten Glückseligkeit führet, so wirds einem Ernst. Alsdenn ist es wirklich so schwer nicht, als man sichs vorstellt. Laßt mich euch die ganze Sache kürzlich erklären. Jesus Christus hat uns eine Lehre hinterlassen, die der Natur der menschlichen Seele so angemessen ist, daß sie, wann sie nur befolgt wird, nothwendig vollkommen glücklich machen muß. Wenn wir alle Lehren aller Weltweisen durchgehen, so finden wir eine Menge Regeln, die so zusammenhangen, wie sie sich ihr Lehrgebäude geformt hatten. Bald hinken sie, bald laufen sie, und dann stehen sie still; nur die Lehre Christi, aus den tiefsten Geheimnissen der menschlichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiset, dem der es recht einsieht, vollkommen, daß ihr Verfasser den Menschen selber müsse gemacht haben, indem er ihn bis auf den ersten Grundtrieb kannte. Der Mensch hat einen unendlichen Hunger nach Vergnügen, nach Vergnügen, die im Stande sind ihn zu sättigen, die immer was neues ausliefern, die eine unaufhörliche Quelle neuer Vergnügen sind. In der ganzen Schöpfung finden wir keine von solcher Art. Sobald wir ihrer durch den Wechsel der Dinge verlustig werden, so lassen sie eine Quaal zurück, wie ihr zum Exempel bei eurem Dortchen gewahr worden. Dieser göttliche Gesetzgeber wuste, daß der Grund aller menschlichen Handlungen die wahre Selbstliebe sey. Weit davon entfernt, diesen Trieb, der viel Böses anrichten kann, zu verdrängen, so giebt er lauter Mittel an die Hand, denselben zu veredlen und zu verfeinern. Er befiehlt, wir sollen andern das beweisen, was wir wünschen, daß sie uns beweisen sollen; thun wir nun das, so sind wir ihrer Liebe gewiß, sie werden uns wohl thun und viel Vergnügen machen, wenn sie anders keine böse Menschen sind. Er befiehlt, wir sollen die Feinde lieben; so bald wir nun einem Feinde Liebes und Gutes erzeigen, so wird er gewiß auf das äusserste gefoltert, bis er sich mit uns ausgesöhnt hat; wir selbsten aber geniessen bei der Ausübung dieser Pflichten, die uns nur im Anfang ein wenig Mühe kosten, einen innern Frieden, der alle sinnliche Vergnügen weit übertrifft. Ueberdas ist der Stolz eigentlich die Quelle aller unserer gesellschaftlicher Laster, alles Unfriedes, Hasses und Störens der Ruhe. Wider diese Wurzel alles Uebels nun ist kein besser Mittel, als obige Gesetze Jesu Christi. Ich mag mich für jetzo nicht weiter darüber erklären; ich wollte euch nur so viel sagen: daß es wohl der Mühe werth sey, Ernst anzuwenden, der Lehre Christi zu folgen, weil sie uns dauerhafte und wesentliche Vergnügen verschaffet, die uns im Verlust anderer die Wage halten können.
     »Sagt mir doch dieses alles vor, Freund Niclas! ich muß es aufschreiben, ich glaube daß es wahr ist, was ihr sagt.«
     Niclas wiederholte es von Herzen, und immer mit einem bißgen mehr oder weniger, und Wilhelm schrieb es auf, so wie ers ihm vorsagte.
     »Aber, fuhr er fort, wenn wir durch die Nachfolge der Lehre Christi selig werden, wofür ist dann sein Leiden und Sterben? Die Prediger sagen ja, wir könnten die Gebote nicht halten, sondern wir würden nur durch den Glauben an Christum und durch sein Verdienst gerecht und selig.«
     Niclas lächelte und sagte: Davon läßt sich all einmal weiter reden. Nehmts nur eine Weile so, daß wie er uns durch sein heiliges reines Leben, da er in der Gnade vor Gott und den Menschen hinwandelte, eine freye Aussicht über unser Leben, über die verworrne Erdhändel verschafft hat, daß wir durch einen Blick auf ihn muthig werden, und offen der Gnade die über uns waltet, zur größern Einfalt des Herzens, mit der man überall durchkommt, so hat er auch, sag ich, sein Kreuz hin in die Nacht des Todes gepflanzt, wo die Sonne untergeht und der Mond sein Licht verliert, daß wir da hinauf blicken, und ein »Gedenke mein!« in demüthiger Hoffnung rufen. So werden wir durch sein Verdienst selig, wenn ihr wollt; denn er hat sich die Freiheit der Seinen vom ewigen Tod scharf und sauer genug verdient, und so werden wir durch den Glauben selig, denn der Glaube ist Seligkeit. Laßt euch indessen das all nicht anfechten, und seyd im Kleinen treu, sonst werdet ihr im Großen nichts ausrichten. Ich will euch ein Paar Blätter hier lassen, die aus dem französischen des Erzbischofs Fenelon übersetzt sind; sie handeln von der Treue in kleinen Dingen; auch will ich euch die Nachfolge Christi des Thomas von Kempis mitbringen, ihr könnt da weiter Nachricht bekommen.
     Ich kann nicht eigentlich sagen, ob Wilhelm aus wahrer Ueberführung diese Lehre angenommen, oder ob der Zustand seines Herzens so beschaffen gewesen, daß er ihre Schönheit empfunden, ohne ihre Wahrheit zu untersuchen. Gewiß, wenn ich mit kaltem Blut den Vortrag dieses Niclasens durchdenke, so find ich daß ich nicht alles reimen kann, aber im Ganzen ists doch herrlich und gut.
     Wilhelm kaufte von Niclasen einige Ellen Stof, ohne sie nöthig zu haben, und da nahm der gute Prediger sein Bündel auf den Nacken und ging, doch mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen; und gewis wird Niclas den ganzen Giller durch Gott recht herzlich für die Bekehrung Wilhelms gedankt haben. Dieser nun fand eine tiefe unwiderstehliche Neigung in seiner Seele, die ganze Welt dran zu geben und mit seinem Kinde oben im Hause auf einer Kammer allein zu wohnen. Seine Schwester Elisabeth wurde an einen Leineweber Simon an seine Stelle ins Haus verheurathet, er aber bezog seine Kammer, schaffte sich einige Bücher an, die ihm von Niclas vorgeschlagen wurden, und so verlebte er daselbst mit seinem Knaben viele Jahre.
     Die ganze Beschäftigung dieses Mannes ging während dieser Zeit dahin, mit seinem Schneiderhandwerke seine Bedürfnisse zu erwerben; (denn er gab für sich und sein Kind wöchentlich ein erträgliches Kostgeld ab an seine Eltern) und dann, alle Neigungen seines Herzens, die nicht auf die Ewigkeit abzielten, zu dämpfen; endlich aber auch seinen Sohn in eben den Grundsätzen zu erziehen, die er sich als wahr und festgegründet eingebildet hatte. Des Morgens um vier Uhr stund er auf, und fing an zu arbeiten; um sieben weckte er seinen Henrichen, und beym ersten Erwachen erinnerte er ihn freundlich an die Gütigkeit des Herrn, der ihn die Nacht durch von seinen Engeln bewachen lassen. Danke ihm dafür, mein Kind! sagte Wilhelm, indem er den Knaben ankleidete. War dieses geschehen, so muste er sich in kaltem Wasser waschen, und dann nahm ihn Wilhelm bei sich, schloß die Kammer zu, und fiel mit ihm vor dem Bette auf die Kniee, und betete mit der größten Inbrunst des Geistes zu Gott, wobei ihm die Thränen oft häufig zur Erde flossen. Dann bekam der Junge sein Frühstück, welches er mit einem Anstand und Ordnung verzehren muste, als wenn er in Gegenwart eines Prinzen gespeiset hätte. Nun muste er ein kleines Stück im Catechismus lesen, und vor und nach auswendig lernen; auch war ihm erlaubt, alte anmuthige und einem Kinde begreifliche Geschichten, theils geistliche, theils weltliche, zu lesen, als da war: der Kaiser Oktavianus mit seinen Weib und Söhnen; die Historie von den vier Haymons Kindern; die schöne Melusine und dergleichen. Wilhelm erlaubte niemalen dem Knaben mit andern Kindern zu spielen, sondern er hielt ihn so eingezogen, daß er im siebenten Jahr seines Alters noch keine Nachbars Kinder, wohl aber eine ganze Reihe schöner Bücher kannte. Daher kam es denn, daß seine ganze Seele anfing sich mit Idealen zu belustigen; seine Einbildungskraft ward erhöht, weil sie keine andere Gegenstände bekam, als idealische Personen und Handlungen. Die Helden alter Romanzen, deren Tugenden übertrieben geschildert wurden, setzten sich unvermerkt, als so viel nachahmungswürdige Gegenstände in sein Gemüth feste, und die Laster wurden ihm zum größesten Abscheu; doch aber, weil er beständig von Gott und frommen Menschen reden hörte, so wurde er unvermerkt in einen Gesichtspunkt gestellt, aus dem er alles beobachtete. Das erste wornach er fragte, wenn er von jemand etwas las oder reden hörte, bezog sich auf seine Gesinnung gegen Gott und Christum. Daher, als er einmal Gottfried Arnolds Leben der Altväter bekam, konnte er gar nicht mehr aufhören zu lesen, und dieses Buch, nebst Reizens Historie der Wiedergebohrnen, blieb sein bestes Vergnügen in der Welt, bis ins zehnte Jahr seines Alters; aber alle diese Personen, deren Lebensbeschreibungen er las, blieben so fest in seiner Einbildungskraft idealisirt, daß er sie nie in seinem Leben vergessen hat.
     Am Nachmittag, von zwo bis drei Uhr, oder auch etwas länger, lies ihn Wilhelm in den Baumhof und Geisenberger Wald spatzieren; er hatte ihm daselbst einen Distrikt angewiesen, den er sich zu seinen Belustigungen zueignen, aber über welchen er nicht weiter ohne Gesellschaft seines Vaters hinausgehen durfte. Diese Gegend war nicht größer, als Wilhelm aus seinem Fenster übersehen konnte, damit er ihn nie aus den Augen verlieren möchte. War denn die gesetzte Zeit um, oder wenn sich auch ein Nachbars Kind Henrichen von weiten näherte, so pfif Wilhelm, und auf dieses Zeichen war er den Augenblick wieder bei seinem Vater.
     Diese Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Waldes, der an den Hof gränzte, wurde von unserm jungen Knaben also täglich bei gutem Wetter besucht, und zu lauter idealischen Landschaften gemacht. Da war eine egyptische Wüste, in welcher er einen Strauch zur Höle umbildete, in welche er sich verbarg und den heiligen Antonius vorstellte, betete auch wohl in diesem Enthusiasmus recht herzlich. In einer andern Gegend war der Brunn der Melusine; dort war die Türkei, wo der Sultan und seine Tochter, die schöne Marcebilla, wohnten; da war auf einem Felsen das Schloß Montalban, in welchem Reinold wohnte u.s.w. Nach diesen Oertern wallfahrte er täglich, kein Mensch kann sich die Wonne einbilden die der Knabe daselbst genoß; sein Geist floß über, er stammelte Reimen und hatte dichterische Einfälle. So war die Erziehung dieses Kindes beschaffen bis ins zehnte Jahr. Eins gehört noch hierzu. Wilhelm war sehr scharf; die mindeste Uebertretung seiner Befehle bestrafte er aufs schärfeste mit der Ruthe. Daher kam zu obigen Grundlagen eine gewisse Schüchternheit in des jungen Stillings Seele, und aus Furcht für den Züchtigungen suchte er seine Fehler zu verhelen und zu verdecken, so daß er sich nach und nach zum Lügen verleiten ließ; eine Neigung die ihm zu überwinden bis in sein zwanzigstes Jahr viele Mühe gemacht hat. Wilhelms Absicht war, seinen Sohn beugsam und gehorsam zu erziehen, um ihn zu Haltung göttlicher und menschlicher Gesetze fähig zu machen; und eine gewissenhafte Strenge führte, däuchte ihn, den nächsten Weg zum Zwecke; und da konnte er gar nicht begreifen, woher es doch käme, daß seine Seligkeit, die er an den schönen Eigenschaften seines Jungens genoß, durch das Laster der Lügen, auf welchem er ihn oft ertappte, so häßlich versalzen würde. Er verdoppelte seine Strenge, besonders wo er eine Lüge gewahr wurde; allein er richtete dadurch weiter nichts aus, als daß Henrich alle erdenkliche Kunstgriffe anwendete seine Lügen wahrscheinlicher zu machen; und so wurde denn doch der gute Wilhelm betrogen. Sobald merkte der Knabe nicht daß es ihm gelung, so freute er sich und dankte noch wohl Gott, daß er ein Mittel gefunden, einem Strafgericht zu entgehen. Doch muß ich auch dieses zu seiner Ehrenrettung sagen; er log nicht, als nur dann, wann er Schläge damit abwenden konnte.
     Der alte Stilling sah alles dieses ganz ruhig an. Die strenge Lebensart seines Sohnes beurtheilte er nie; lächelte aber wohl zuweilen und schüttelte die grauen Locken, wann er sah, wie Wilhelm nach der Ruthe grif, weil der Knabe etwas gegessen oder gethan hatte, das gegen seinen Befehl war. Dann sagte er auch wohl in Abwesenheit des Kindes: Wilhelm! wer nicht will, daß seine Gebote häufig übertreten werden, der muß nicht viel befehlen. Alle Menschen lieben die Freiheit. - Ja, sagte Wilhelm dann, so wird mir aber der Junge eigenwillig. Verbeut du ihm, erwiederte der Alte, seine Fehler, wann er sie eben begehen will, und unterrichte ihn warum; hast du es aber vorhin verboten, so vergißt der Knabe die vielen Gebote und Verbote, fehlt immer, du aber must dein Wort handhaben, und so giebts immer Schläge. Wilhelm erkannte dieses, und ließ vor und nach die mehresten Regeln in Vergessenheit kommen; er regierte nun nicht mehr so sehr nach Gesetzen, sondern ganz monarchisch; er gab seinen Befehl immer wenns nöthig war, richtete ihn nach den Umständen ein, und nun wurde der Knabe nicht mehr so viel gezüchtigt, seine ganze Lebensart wurde in etwas aufgeweckter, freier und edler.
     Henrich Stilling wurde also ungewöhnlich erzogen, ganz ohne Umgang mit andern Menschen; er wuste daher nichts von der Welt, nichts von Lastern, er kannte gar keine Falschheit und Ausgelassenheit; beten, lesen und schreiben war seine Beschäftigung; sein Gemüth war also mit wenigen Dingen angefüllt; aber alles was darinn war, war so lebhaft, so deutlich, so verfeinert und veredelt, daß seine Ausdrücke, Reden und Handlungen sich nicht beschreiben lassen. Die ganze Familie erstaunte über den Knaben, und der alte Stilling sagte oft: Der Junge entfleugt uns, die Federn wachsen ihm größer, als je einer in unserer Freundschaft gewesen; wir müssen beten, daß ihn Gott mit seinem guten Geist regieren wolle. Alle Nachbarn, die wohl in Stillings Hause kamen, und den Knaben sahen, verwunderten sich; denn sie verstunden nichts von allem was er sagte, ob er gleich gut deutsch redete. Unter andern kam einmal Nachbar Stähler hin, weilen er von Wilhelmen ein Camisol gemacht haben wollte; doch war wohl seine Hauptabsicht dabei, unter der Hand sein Mariechen zu versorgen; denn Stilling war im Dorf angesehen, und Wilhelm war fromm und fleißig. Der junge Henrich mochte acht Jahr alt seyn; er saß in einem Stuhl und las in einem Buch, sah seiner Gewohnheit nach ganz ernsthaft, und ich glaube nicht, daß er zu der Zeit noch in seinem Leben stark gelacht hatte. Stähler sah ihn an und sagte: Henrich was machst du da?
     »Ich lese.«
     Kannst du denn schon lesen?
     Henrich sah ihn an, verwunderte sich und sprach: Das ist ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Mensch. - Nun las er hart, mit Leichtigkeit, gehörigem Nachdruck und Unterscheidung. Stähler entsetzte sich und sagte: Hol' mich der T ... so was hab ich mein lebtag nicht gesehn. Bei diesem Fluch sprang Henrich auf, zitterte und sah schüchtern um sich; wie er endlich sah, daß der Teufel ausblieb, rief er: Gott, wie gnädig bist du! - trat darauf vor Stählern und sagte: Mann! habt ihr den Satan gesehen? Nein, antwortete Stähler. So ruft ihm nicht mehr, versetzte Henrich, und ging in eine andere Kammer.
     Das Gerücht von diesem Knaben erscholl weit umher; alle Menschen redeten von ihm und verwunderten sich. Selbst der Pastor Stollbein wurde neugierig ihn zu sehen. Nun war Henrich noch nie in der Kirche gewesen, hatte daher auch noch nie einen Mann mit einer großen weissen Perücke und feinen schwarzen Kleide gesehen. Der Pastor kam nach Tiefenbach hin, und weil er vielleicht eh in ein ander Haus gegangen war, so wurde seine Ankunft in Stillings Hause vorhin ruchtbar, wie auch warum er gekommen war. Wilhelm unterrichtete seinen Henrichen also, wie er sich betragen müste, wenn der Pastor käme. Er kam dann endlich, und mit ihm der alte Stilling. Henrich stund an der Wand grad auf, wie ein Soldat der das Gewehr präsentirt; in seinen gefaltenen Händen hielt er seine aus blauen und grauen tuchenen Lappen zusammen gesetzte Mütze, und sah dem Pastor immer starr in die Augen. Nachdem sich Herr Stollbein gesetzt, und ein und ander Wort mit Wilhelmen geredet hatte, drehte er sich gegen die Wand, und sagte: Guten Morgen Henrich! -
     »Man sagt guten Morgen sobald man in die Stube kommt.«
     Stollbein merkte mit wem er's zu thun hatte, daher drehte er sich mit seinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: Kannst du auch den Catechismus?
     »Noch nicht all.«
     Wie noch nicht all, das ist ja das erste was die Kinder lernen müssen.
     »Nein, Pastor, das ist nicht das erste; Kinder müssen erst beten lernen, daß ihnen Gott Verstand geben möge, den Catechismus zu begreifen.«
     Herr Stollbein war schon im Ernst ärgerlich, und eine scharfe Strafpredigt an Wilhelmen war schon ausstudirt; doch diese Antwort machte ihn stutzig. Wie betest du denn? fragte er ferner.
     »Ich bete: lieber Gott! gieb mir doch Verstand, daß ich begreifen kann, was ich lese.«
     Das ist recht, mein Sohn, so bete fort!
     »Ihr seyd nicht mein Vater.«
     Ich bin dein geistlicher Vater.
     »Nein, Gott ist mein geistlicher Vater; ihr seyd ein Mensch ein Mensch kann kein Geist seyn.«
     Wie, hast du denn keinen Geist, keine Seele?
     »Ja freylich! wie könnt ihr so einfältig fragen? Aber ich kenne meinen Vater.«
     Kennst du denn auch Gott, deinen geistlichen Vater?
     Henrich lächelte. »Sollte ein Mensch Gott nicht kennen?«
     Du kannst ihn ja doch nicht sehen.
     Henrich schwieg, und hohlte seine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Pastor den Spruch Röm. I.V. 19. und 20.
     Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinaus gehen, und sagte zu dem Vater: Euer Kind wird alle seine Voreltern übertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Ruthe zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt.

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